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GrundsaÈtze der Gesundheitspolitik
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Gesundheitspolitik
unter volkswirtschaftlicher Betrachtung
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Peter Oberender, JuÈrgen Zerth
inhaltsuÈberblick
Der Beitrag gibt zunaÈchst eine schrittweise EinfuÈhrung in
relevante Fragestellungen gesundheitspolitischer Entscheidungen. Daran wird gemessen, inwiefern die realisierten
Reformmaûnahmen in Deutschland, beginnend mit dem
KostendaÈmpfungsgesetz 1977, dem Gesundheitsreformgesetz 1989, dem Gesundheitsstrukturgesetz 1992 sowie den
beiden Neuordnungsgesetzen 1996 und 1997 vom zugrundegelegten Leitbild abweichen. Auch die projektierte Gesundheitsreform 2000 wird einer kurzen ordnungspolitischen Analyse unterzogen. Die Autoren stellen fest, daû
der Gesetzgeber weitgehend mittels einer ad-hoc-Politik
versucht hat, die Probleme des Gesundheitswesens zu loÈsen. Dabei sind aber vor allem die im institutionellen Bereich liegenden Steuerungsdefizite nicht ernsthaft beruÈcksichtigt worden. Als moÈgliche ErklaÈrung fuÈr diese Entwicklung ziehen die Autoren insbesondere den Ansatz
des WaÈhlerstimmenmarktes heran. Die wachsende Interventionsspirale im Gesundheitswesen laÈût sich, so das ResuÈmee, nur durch eine ordnungspolitische Neuorientierung dauerhaft und tragfaÈhig loÈsen.
GrundsaÈtze der Gesundheitspolitik
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Gegenstand der Gesundheitspolitik ist das gesundheitsrelevante Handeln der EntscheidungstraÈger im Gesundheitswesen. Hierzu zaÈhlen Krankenversicherungen, Versicherte, Leistungserbringer sowie jene staatlichen Akteure,
die fuÈr das Setzen der Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen zustaÈndig sind (Regierung, AufsichtsbehoÈr1
Positive Theorie der
Gesundheitspolitik
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Normative Theorie
der Gesundheitspolitik
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den, GesundheitsaÈmter etc.). Die Aufgabe der oÈkonomischen Theorie der Gesundheitspolitik besteht zum einen
darin, das Handeln der Akteure zu beschreiben, systematisierend darzustellen und zu erklaÈren (positive Theorie).
Das Erkenntnisinteresse gilt dabei der Frage, wie auf das
Gesundheitswesen bezogene Ziele formuliert und Entscheidungen getroffen werden (ausfuÈhrlich zum Zusammenhang der Zielbeziehungen in der Wirtschaftspolitik
KuÈlp u. Berthold 1992 S. 205 ff.).
Die oÈkonomische Theorie der Gesundheitspolitik erhebt
zum anderen den Anspruch der Beratung von EntscheidungstraÈgern auf der Grundlage gesundheitsoÈkonomischer Erkenntnisse (normative Theorie). Sie versucht
dann, die von ihr gewonnenen Einsichten zur Bewertung
von Entscheidungsalternativen anzuwenden. DafuÈr muû erforscht werden, was getan werden kann, um eine angestrebte
Soll-Situation zu verwirklichen. Das hierzu erforderliche
Vorgehen umfaût eine Diagnose des Ist-Zustandes, eine
Analyse der Entstehungsursachen, eine Prognose sowohl
uÈber die Entwicklung des Ist-Zustandes ohne Intervention
wie uÈber die Auswirkungen der erwogenen Maûnahme, eine
Beschreibung des angestrebten Soll-Zustandes, eine Abweichungsanalyse und die Handlungsempfehlung.
Dieser Beitrag ist zum einem der Frage gewidmet, wie
die deutsche Gesundheitspolitik der Ist-Situation eines
staÈndig wachsenden Ausgabenanstiegs (Abb. 1) bislang
begegnet, welche ordnungspolitische Beurteilung diese
Maûnahmen zu erfahren haben, um dann anschlieûend
darauf aufbauend eine Skizzierung eines zukuÈnftigen
deutschen Gesundheitswesen zu versuchen. Als Grundlage einer ordnungspolitischen Analyse ist jedoch zuerst
die Frage nach dem zugrundegelegten Steuerungsverfahren zu beantworten.
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GrundsaÈtze der Gesundheitspolitik
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Abb. 1: Fieberkurve im Gesundheitswesen
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Gesundheitspolitik als Aufgabe
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Gesundheitspolitik als Aufgabe
Gesundheitspolitik
beschreibt das
Handeln der
EntscheidungstraÈger
Aufgabe der Ordnungspolitik ist die Etablierung allgemeiner Regeln, nach denen in einer arbeitsteiligen Wirtschaft
die AktivitaÈten der Wirtschaftseinheiten, der EntscheidungstraÈger im Gesundheitswesen, koordiniert werden.
Eine Legitimation jeder ordnungspolitischen Ûberlegung
findet sich darin, daû jedes menschliche Zusammenleben
eines Regelwerkes in Form von Organisations- und Koordinationsregeln bedarf, das als Gesamtheit bestimmte
Verhaltensweisen begruÈndet oder verbietet (Streit 1996).
Der folgende Abschnitt zeigt zuerst im Ûberblick Elemente der Steuerungsebenen im Gesundheitswesen auf,
um dann im zweiten Schritt der in der Bundesrepublik
gewaÈhlten Form einer sozialen Marktwirtschaft naÈherzukommen.
Es koÈnnen drei
Steuerungsebenen
unterschieden werden:
Mikro-, Mesound Makroebene
Steuerungsebenen der Gesundheitspolitik
Die Austauschbeziehungen im Gesundheitswesen sind
dem Ziel untergeordnet, der Befriedigung der PatientenbeduÈrfnisse unter der EinschraÈnkung der Knappheit zu
dienen. Die Knappheit fordert ein gezieltes TaÈtigwerden,
um bei gegebenen Mitteln eine moÈglichst umfassende BeduÈrfnisbefriedigung zu erreichen. Jedes Gesundheitswesen besteht zumindest aus zwei Parteien: den Patienten
als Nachfrager und den medizinischen Leistungserbringer
als Anbieter. Ûbernehmen Krankenversicherungen innerhalb des Gesundheitswesens die Aufgabe der Kollektivvorsorge, so kommen sie als dritter Part hinzu. Die Parteien stehen untereinander in Austauschbeziehungen, indem sie fuÈreinander Leistungen abgeben (Abb. 2). Die
Abstimmung von Austauschbeziehungen wird als Steuerung bezeichnet. Sie kann auf unterschiedlichen Ebenen
erfolgen (Abb. 3).
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Abb. 2: Austauschbeziehungen im Gesundheitswesen
Abb. 3: Steuerungsebenen im Gesundheitswesen
Eine Steuerung auf der Individualebene folgt dem
Prinzip einer marktwirtschaftlichen Ordnung. Versicherter und Patient, Arzt und Krankenversicherung treten als
Individuen oder freiwillige Organisationen einander gegenuÈber und stimmen auf diese Weise ihre Austauschbeziehungen miteinander ab. Der Individualebene uÈbergeordnet ist die Ebene der VerbaÈnde bzw. Selbstverwal5
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tungsorganisationen. Auf ihr stehen sich die entsprechenden ZwangsverbaÈnde der Leistungserbringer bzw. Patientenorganisationen gegenuÈber. Diese HandlungstraÈger sind
Ausfluû einer staatlichen Zwangsgewalt und folgen nicht
dem freiwilligen Austauschprinzip. Die hoÈchste Steuerungsebene kann der staatlichen Gewalt zugeordnet werden. Hier uÈbernehmen staatliche Organisationen die Aufgabe der Austauschbeziehungen zwischen Leistungserbringern, Versicherten und Krankenversicherungen. WaÈhrend diese unterschiedlichen Steuerungsebenen theoretisch als Alternativen zu verstehen sind, kommen in der
RealitaÈt generell Mischformen aus allen drei Steuerungsebenen vor. Um jedoch einen Konflikt der Steuerungsebenen zu vermeiden, ist dann eine Regel erforderlich,
wann welche Steuerungsebene den Vorzug genieût.
Eine marktwirtschaftliche Ordnung
fuût auf individuellen
Entscheidungen
Marktwirtschaft und SolidaritaÈt
Gesundheitssystem in einer Marktwirtschaft
Als ordnungspolitische Grundsatzentscheidung in der
Bundesrepublik ist das Konzept der sog. ¹Sozialen Marktwirtschaftª gewaÈhlt worden. Als Ausgangspunkt einer
marktlichen Steuerung steht die Vorstellung eines muÈndigen BuÈrgers mit individuellen BeduÈrfnissen. Dabei weiû
jeder fuÈr sich am besten, worin seine eigenen BeduÈrfnisse
bestehen. Ûberindividuelle objektive BeduÈrfnisse bestehen folgerichtig nicht. Deshalb ist es nur konsequent,
dem Individuum die Entscheidung daruÈber zu uÈberlassen, welche Ziele es verfolgen will. Aus dieser Ûberlegung
heraus uÈbernimmt jedes Individuum eigenstaÈndig Steuerungsaufgaben. Folglich ist es eine Grundvoraussetzung,
jedem Individuum persoÈnliche Freiheit zuzugestehen, um
die Entscheidung uÈber sein wirtschaftliches Verhalten
selbst treffen zu koÈnnen. Mit dieser Freiheit verbunden
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ist jedoch zwingend die Verantwortung fuÈr eigenes Handeln, damit die moÈglichen Folgen individuellen Handelns
in die Entscheidung mit einbezogen werden (vgl. Hayek
1991).
Ûbertragen auf den Gesundheitsbereich wuÈrde dies
implizieren, daû der einzelne die freie Wahl- und EntscheidungsmoÈglichkeit uÈber den anzustrebenden Gesundheitszustand bzw. fuÈr oder gegen eine Vorsorge im
Krankheitsfall haben muÈûte. Dabei entscheidet jeder BuÈrger autonom im Rahmen seiner individuellen BeduÈrfnisse
uÈber das Ausmaû und die Struktur seiner medizinischen
Versorgung. Damit hat er selber die Therapiehoheit inne,
was jedoch nicht gleichbedeutend mit Omnipotenz ist.
Krankenversicherungen dienen dem Patienten als Agenten und stehen gegenseitig im Wettbewerb um Patienten
sowie um Leistungserbringer. Das impliziert auch die
MoÈglichkeit fuÈr die Krankenkassen mit einzelnen Leistungserbringern VertraÈge abschlieûen zu koÈnnen (selektives Kontrahieren).
Die Handlungsfreiheit muû aber auch auf Seiten der
Leistungserbringer gegeben sein. Ausgangspunkt fuÈr das
Handeln eines medizinischen Leistungserbringers sind
VerbraucherbeduÈrfnisse. KoÈnnen Verbraucher unter verschiedenen Anbietern auswaÈhlen, so konkurrieren diese
Anbieter miteinander um die jeweiligen Verbraucher. Das
bedeutet, daû jeder Leistungserbringer durch den Einsatz
verschiedener Aktionsparameter versucht, seine individuelle Wettbewerbsposition zu verbessern und Vorteile gegenuÈber seinen Konkurrenten zu erzielen (vgl. Oberender
u. Daumann 1997 S. 240 ff.).
Ein Aktionsparameter ist eine wettbewerblich relevante GroÈûe, die vom einzelnen Leistungserbringer beeinfluût werden kann. Die Aktionsparameter fuÈr medizini7
Der Einzelne hat
die Therapiehoheit
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Gesundheitspolitik als Aufgabe
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sche Leistungserbringer umfassen u. a. folgende HandlungsmoÈglichkeiten: Honorar, Menge, QualitaÈt, Organisation, Standort, Fort- und Weiterbildung sowie Marketing.
Der Einsatz der Aktionsparameter erfolgt schlieûlich
innerhalb der gegebenen Rahmenbedingungen (z. B.
rechtliche Regelungen). Je nach Gestaltung der Rahmenbedingungen koÈnnen bestimmte Aktionsparameter dem
Wettbewerb entzogen werden. Element einer marktwirtschaftlichen Ordnung ist dabei der moÈglichst freie und
gleiche Marktzugang fuÈr alle Leistungserbringer.
Die Prinzipien
der Marktwirtschaft
werden mit
dem Solidarprinzip
verbunden
Soziale Marktwirtschaft
In der Bundesrepublik ist die marktliche Steuerung im
Gesundheitswesen mit dem Solidarprinzip verknuÈpft worden (MuÈller-Armack 1976). Damit werden folglich verschiedene Steuerungsebenen miteinander verbunden.
Dem Konzept einer sozialen Marktwirtschaft nach wird
aus der Gesundheit als Wert das politische Ziel abgeleitet,
daû jeder im Krankheitsfall, unabhaÈngig von seiner individuellen LeistungsfaÈhigkeit, bestimmte GesundheitsguÈter
nachfragen soll. Dieses Ziel wird durch die EinfuÈhrung
einer verbindlichen solidarischen Mindestabsicherung gegen finanzielle Folgen von Erkranken (Versicherungspflicht) verwirklicht. Die konkreten AusgestaltungsvorschlaÈge einer ¹Sozialen Marktwirtschaftª folgen verschiedenen AnsaÈtzen: einmal die eher an Eucken (1975) orientierte Ordnungspolitik als Sozialpolitik, daruÈber hinaus
die namentlich von MuÈller-Armack vertretene Sozialpolitik mit gesellschaftspolitischen Auftrag, die sich dem Ziel
der Umverteilung verschrieben hat (MuÈller-Armack 1976).
Das SubsidiaritaÈtsprinzip kann derart umgesetzt werden, daû ein bestimmter Umfang an GesundheitsguÈtern
beispielsweise mit Hilfe eines Regelleistungskatalogs fest8
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gelegt wird, zu dem jeder BuÈrger im Sinne einer Ergebnisgerechtigkeit gleichen Zugang hat. In diesem sollten
aber dann nur jene GesundheitsguÈter aufgenommen werden, deren Nachfrage die finanzielle LeistungsfaÈhigkeit eines Konsumenten uÈbersteigen wuÈrde. Ein elementarer Bestandteil einer der sozialen Marktwirtschaft angelehnten
Gesundheitsversorgung kommt der Krankenversicherung
zu. Grundlegende Bestandteile sind dabei eine PraÈmiengestaltung nach dem Solidarprinzip, d. h. einkommensabhaÈngige BeitraÈge, beitragsunabhaÈngige Leistungen, daruÈber hinaus Diskriminierungsverbot und Kontrahierungszwang.
Eine derart gestaltete soziale Absicherung kann aber
auch dazu fuÈhren, daû die Verbindung zwischen individueller Freiheit und der Verantwortung fuÈr die Folgen
des eigenen Handelns aufgehoben und der Verantwortung
der Gemeinschaft uÈbertragen wird. Um dies zu verhindern, sind Regeln erforderlich, welche die individuelle
SphaÈre von der kollektiven Gemeinschaft abgrenzen koÈnnen.
Hierzu dient das Prinzip der SubsidiaritaÈt. Danach
sollen groÈûeren Kollektiven keine Aufgaben uÈbertragen
werden, die kleinere soziale Einheiten oder das Individuum selbst ebenfalls entsprechend erfuÈllen koÈnnen. Dieses
Prinzip erfordert eine klare und widerspruchsfreie Abgrenzung der Kompetenzen auf den einzelnen Steuerungsebenen. Insbesondere soll eine staatliche Ordnungspolitik nach dem Prinzip allgemeiner und diskriminierungsfreier Regelungen ausgerichtet sein, um den Individuen ein HoÈchstmaû an persoÈnlicher Entscheidungsfreiheit zu erlauben (vgl. Hayek 1991).
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Regeln sind
notwendig
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Entwicklung der Gesundheitspolitik in Deutschland
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Entwicklung der Gesundheitspolitik in Deutschland
Im folgenden Abschnitt sollen die gesundheitspolitischen
Maûnahmen in der Bundesrepublik einer ordnungspolitischen Analyse unterworfen werden. Dies erfordert aber
eingangs eine Abgrenzung der PruÈfkriterien, die sich an
den Ûberlegungen zu den Steuerungssystemen in einer
dem SubsidiaritaÈtsprinzip angelehnten Marktwirtschaft
orientieren.
Kriterien: KonformitaÈt
und SubsidiaritaÈt
Kriterien einer kritischen WuÈrdigung
Sozialpolitische Maûnahmen haben sich wie bereits weiter oben gezeigt nach dem Prinzip der Nichtdiskriminierung und infolgedessen der SubsidiaritaÈt auszurichten.
Eine Begrenzung erfahren alle sozialpolitische Maûnahmen in der Tradition Euckens durch die notwendige GewaÈhrleistung der Markt- und Wettbewerbswirtschaft in
ihrer Gesamtheit (vgl. Eucken 1975 S. 312 f.). Daraus laÈût
sich als weiteres Kriterium zur SubsidiaritaÈt eine KonformitaÈtspruÈfung konzipieren. Das Kriterium der OrdnungskonformitaÈt bezieht sich auf die Vereinbarkeit mit der
oÈkonomischen und politischen Rahmenordnung. Mit der
Unterscheidung zwischen Ordnungs- und Prozeûpolitik
werden Anhaltspunkte dafuÈr geliefert, weil der Eingriff in
den Koordinationsprozeû des Marktes bzw. den freiwilligen Austauschprozeû auf der Mikroebene besonders
¹verdaÈchtigª oder in hohem Maûe legitimationsbeduÈrftig
ist. Unter ZielkonformitaÈt wird der Zielerreichungsgrad
der Maûnahmen hinterfragt, namentlich bei den gesundheitspolitischen Reformen die Minimierung oder gar das
Einfrieren des Ausgabenanstiegs.
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KostendaÈmpfungsgesetze
Angesichts der Ausgabenentwicklung in der GKV fand
Mitte der 70er Jahre ein Umdenken in der Gesundheitspolitik statt. An die Stelle einer ausgabenorientierten Einnahmenpolitik trat die ¹einnahmenorientierte Ausgabenpolitikª. Am 1. Juli 1977 traten das ¹Krankenversicherungs-KostendaÈmpfungsgesetzª (KVKG) und am 1. Januar
1982 das ¹KostendaÈmpfungs-ErgaÈnzungsgesetzª (KVEG)
in Kraft. Mit Hilfe dieser Gesetze sollte der fuÈr die GKV
bedrohlichen Entwicklung der Finanzlage Einhalt geboten
werden; insbesondere sollte durch ein preisbewuûteres
Verhalten von Ørzten und Patienten die weitere Zunahme
der Gesundheitsausgaben der GKV gebremst werden.
Maûnahmen
Das KVKG sieht halbjaÈhrliche Plenarsitzungen einer Konzertierten Aktion im Gesundheitswesen (KAiG) vor. Die
der gesamtwirtschaftlich ausgerichteten Konzertierten
Aktion des § 3 StabilitaÈtsgesetz vom 8. Juni 1967 nachempfundene Einrichtung wurde mit der Rolle bedacht,
unter BeruÈcksichtigung einer ¹bedarfsgerechten Versorgung und einer ausgewogenen Verteilung der Belastungen
medizinische und wirtschaftliche Orientierungsdaten sowie VorschlaÈge zur ErhoÈhung der LeistungsfaÈhigkeit,
Wirksamkeit und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesenª zu erarbeiten. Diesem Gremium, dessen gesetzliche
Basis sich heute in den §§ 141, 142 SGB V findet, ist dem
Grundsatz einer einnahmenorientierten Ausgabenpolitik
verpflichtet.
Bei der KAiG handelt es sich um einen Versuch der
Globalsteuerung von volkswirtschaftlich bedeutsamen Aggregaten: Einnahmenentwicklung und Ausgabenentwicklung der GKV (Deutscher Bundestag 1990). Auf der
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Erste KostendaÈmpfungsversuche
Konzertierte Aktion im
Gesundheitswesen
Versuch der
Globalsteuerung
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ArzneimittelhoÈchstbetrag
Transparenzliste
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Grundlage eines durch die Politik vorgegebenen Paradigmas, der einnahmeorientierten Ausgabepolitik, soll die
Konzertierte Aktion eine Verhaltensabstimmung der beteiligten Gruppen herbeifuÈhren und so die Diskrepanz
zwischen individueller und kollektiver RationalitaÈt im Gesundheitswesen beseitigen helfen. Konkret sollen AusgabenspielraÈume ausgelotet, begrenzt und auf die einzelnen
Bereiche des Gesundheitswesens verteilt werden (vgl. Gitter u. Oberender 1987).
Die KAiG besitzt somit eine allokative Funktion, indem
sie Empfehlungen fuÈr die Ausgabenstruktur sowie fuÈr die
absolute HoÈhe der Gesundheitsausgaben abgeben soll. Daneben hat sie aber auch eine distributive Aufgabe, indem
sie ¹eine ausgewogene Verteilung der Belastungenª (§ 141
Abs. 1 SGB V) herzustellen hat. Im Wege einer freiwilligen
Verhaltensabstimmung soll die Kostenentwicklung, die
maûgeblich auch auf den ungebremsten Verteilungskampf
zwischen den Partikularinteressen der einzelnen Leistungserbringer zuruÈckzufuÈhren ist, gesteuert werden.
Unter anderem ist laut Gesetzestext auch vorgesehen,
gemeinsam einen ArzneimittelhoÈchstbetrag fuÈr die GKV
festzulegen. Geschieht dies nicht, so sollen die Spitzenorganisationen der KassenaÈrzte und der Krankenkassen
eine solche Empfehlung abgeben. Bei der Festlegung des
HoÈchstbetrags sind die durchschnittliche Grundlohnsumme der beteiligten Krankenkassen, die Entwicklung der
Arzneimittelpreise und die Zahl der BehandlungsfaÈlle zu
beruÈcksichtigen.
Daneben verlangt das KVKG die Erstellung von Transparenz- und Preisvergleichslisten fuÈr Arzneimittel. Mit
Hilfe von Transparenzlisten der Transparenzkommission
¹Arzneimittelª beim Bundesgesundheitsamt sowie durch
die Preisvergleichsliste des Bundesausschusses der Ørzte
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und Krankenkassen soll die Preistransparenz bei Arzneimitteln fuÈr die Ørzte erhoÈht werden. Durch Preisinformationen sollten die Ørzte zu einem unter Kostengesichtspunkten effizienteren Verschreibungsverhalten bewegt
werden.
Die Preisvergleichsliste enthaÈlt ± von wenigen Ausnahmen abgesehen ± nur MonopraÈparate. Sie sollte zu einer
verbindlichen Informationsquelle fuÈr Ørzte werden. Bei
der Erstellung dieser Liste galt es, gravierende methodische Hindernisse zu uÈberwinden. So muûten moÈglichst
allgemeinguÈltige Kennzahlen fuÈr eine rationelle Arzneimitteltherapie gefunden werden. GeloÈst wurde dieses methodische Problem mit der Definition einer durchschnittlichen mittleren Tagesdosis. DaruÈber hinaus wurden
KombinationspraÈparate benachteiligt, da nur MonopraÈparate erfaût und empfohlen werden. KombinationspraÈparate gelten ± faÈlschlicherweise ± nach wie vor als unwirtschaftlich und tauchen daher in groûem Umfang auf der
spaÈter eingefuÈhrten Negativliste auf. Die Transparenzliste
enthaÈlt neben den Preisen auch Informationen uÈber therapeutische, pharmakologische und pharmazeutische
Merkmale der Arzneimittel.
Ergebnisse und Bewertung
Die Wirksamkeit der KAiG war bereits von Anfang an
eingeschraÈnkt. Wegen der Unverbindlichkeit der KAiGVorschlaÈge entstand bei den Adressaten ein Verantwortungsvakuum; sie fuÈhlten sich in ihrem Handeln nicht an
diese Empfehlungen gebunden. In den bilateralen Verhandlungen zwischen den Krankenkassen und den Leistungsanbietern gelang es den Vertragspartnern bisher
immer, eigene Verbandsinteressen unabhaÈngig von den
BeschluÈssen der KAiG zu verfolgen und durchzusetzen.
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Preisvergleichsliste
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Grundlegender
Wandel ist
ausgeblieben
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Da die eigentlichen Ursache der von allen Seiten konstatierten Probleme des Gesundheitswesen aber nicht aus
der dezentralen Planerstellung der Individuen, sondern
vielmehr aus den SchwaÈchen der zu ihrer Koordinierung
vorgesehenen Regulierungen und Instanzen resultiert, hat
die Konzertierte Aktion bis heute nicht einen grundlegenden Wandel der Situation herbeifuÈhren koÈnnen, eher hat
sie den Blick auf die wirklichen Ursachen weiter verstellt.
Daneben stellt eine derartige Instanz in einer freiheitlich
demokratischen Ordnung eine hoÈchst fragwuÈrdige Einrichtung dar: Entscheidungsbefugnisse werden demokratisch nur unzureichend legitimierten VerbandsfunktionaÈren zugeordnet, deren BeschluÈsse letztlich jeden einzelnen Zwangsversicherten treffen. Folglich ist weder das
SubsidiaritaÈtsprinzip gewahrt noch sind die Maûnahmen
grundsaÈtzlich ordnungskonform (Gitter u. Oberender
1987 S. 28).
Durch den ArzneimittelhoÈchstbetrag sollte eine Parallelentwicklung von Einkommen und Gesundheitsausgaben
festgeschrieben werden, d. h., es sollte das Wachstum des
Gesundheitswesens in Gleichklang mit der Einkommensentwicklung gebracht werden. Die zu erwartende Verbrauchsentwicklung bei Arzneimitteln sah jedoch anders
aus. Die demographische Entwicklung, die VeraÈnderung
des MorbiditaÈtsspektrums und Verbesserungen der medikamentoÈsen Therapie selbst lieûen eher eine Zunahme
des Arzneimittelkonsums erwarten, die uÈber einem erzwungenen paritaÈtischen Anstieg von durchschnittlicher
Grundlohnsumme und Arzneimittelausgaben liegt. Unwirtschaftlichkeit waÈre die Konsequenz einer strikten
Durchsetzung dieser Form der Budgetierung gewesen,
wenn eine medikamentoÈse Therapie durch eine teurere
operative Therapie oder eine verzoÈgerte und schlieûlich
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teurere medikamentoÈse Behandlungen substituiert werden
muû. Wie die weitere Ausgabenentwicklung zeigt, hat
sich dieses Instrument jedoch nicht bewaÈhrt, so daû sich
in der RealitaÈt sehr wohl StrukturveraÈnderungen ergaben.
Die ebenfalls vorgesehenen Transparenz- und Preisvergleichslisten fanden nur sehr zoÈgernd Eingang in die aÈrztliche Verschreibungspraxis. Als Steuerungsinstrumente
vermochten es weder Preisvergleichs- noch Transparenzliste, wesentlichen Einfluû auf die Verschreibung von Arzneimitteln zu nehmen. Es zeigte sich, daû ohne pekuniaÈre
Anreize ein Preis- und Kostenbewuûtsein auf Seiten der
Nachfrage (Ørzte, Patienten) nicht erzeugt werden kann.
Die spaÈter im Rahmen des KostendaÈmpfungs-ErgaÈnzungsgesetzes (KVEG), des Gesundheits-Reformgesetzes
(GRG) und des Gesundheitsstrukturgesetzes (GSG) ergriffenen, wesentlich schaÈrferen Maûnahmen uÈber das Arzneimittelbudget belegen diese These.
Im Rahmen des KVEG reagierte der Gesetzgeber auf
diesen Mangel an Steuerungskraft allerdings nicht mit einem verstaÈrkten Einsatz pekuniaÈrer Anreize, sondern mit
einem Verbot der Kostenerstattung durch die GKV. Die
Kosten sog. Bagatellarzneimittel zur Behandlung ¹geringfuÈgigerª GesundheitsstoÈrungen wurden ab sofort
nicht mehr oder nur noch in begruÈndeten AusnahmefaÈllen von der GKV erstattet (§ 34 SGB V). Die im Sommer
1982 vom Bundesarbeitsministerium vorgelegte Negativliste, die am 1. April 1983 in Kraft trat, umfaût gegenwaÈrtig
ca. 2500 PraÈparate der Arzneimittelgruppen ¹Medikamente gegen ErkaÈltungskrankheiten und grippale Infekte,
Mund- und Rachentherapeutika, AbfuÈhrmittel sowie Arzneimittel gegen Reisekrankheitenª. Hierbei handelt es
sich um solche Indikationsbereiche, bei denen bereits traditionell ein hoher Selbstmedikationsanteil vorlag.
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Folge: Negativliste fuÈr
Bagatellmedikamente
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Nachdem die von KVKG und KVEG erwarteten Wirkungen auf die Ausgabenentwicklung der Krankenkassen
ausblieben, insofern auch nicht zielkonform waren, folgten weitere staatliche BeschraÈnkungen der individuellen
Wahl- und Handlungsfreiheit und damit der SouveraÈnitaÈt
aller Beteiligten des Gesundheitswesen.
KostendaÈmpfung im Gesundheitswesen
durch Gesetze und Verordnungen 1977 bis 1992
z Gesetz zur Da
È mpfung der Ausgabenentwicklung und zur Strukturverbesserung der gesetzlichen Krankenversicherung (Krankenversicherungs-KostendaÈmpfungsgesetz ± KVKG) vom
27. Juni 1977 (BGBI. I S. 1069)
z Gesetz zur Erga
È nzung und Verbesserung der
Wirksamkeit kostendaÈmpfender Maûnahmen in
der Krankenversicherung (KostendaÈmpfungsErgaÈnzungsgesetz ± KVEG) vom 22. Dezember
1981 (BGBI. I S. 1578)
z Gesetz zur Ønderung des Gesetzes zur wirtschaftlichen Sicherung der KrankenhaÈuser und
zur Regelung der KrankenhauspflegesaÈtze
(Krankenhaus-KostendaÈmpfungsgesetz ± KHKDG) vom 22. Dezember 1981 (BGBI. I S. 1568)
z Gesetz zur Wiederbelebung der Wirtschaft und
BeschaÈftigung und zur Entlastung des Bundeshaushalts (Haushaltsbegleitgesetz 1983) vom 20.
Dezember 1982 (BGBI. I S. 1857)
z Gesetz u
È ber Maûnahmen zur Entlastung der oÈffentlichen Haushalte und zur Stabilisierung der
Finanzentwicklung in der Rentenversicherung
sowie uÈber die VerlaÈngerung der Investitions16
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hilfeabgabe (Haushaltsbegleitgesetz 1984) vom
22. Dezember 1983 (BGBI. I S. 1532)
Gesetz zur Neuordnung der Krankenhausfinanzierung (Krankenhaus-Neuordnungsgesetz ±
KHNG) vom 20. Dezember 1984 (BGBI. I S.
1716)
Verordnung zur Regelung der KrankenhauspflegesaÈtze (Bundespflegesatzverordnung ± BPfIV)
vom 21. August 1985 (BGBI. I S. 1666)
Gesetz zur Verbesserung der kassenaÈrztlichen
Bedarfsplanung vom 19. Dezember 1986 (BGBI.
I S. 2593)
Gesetz zur Strukturreform im Gesundheitswesen (Gesundheits-Reformgesetz ± GRG) vom
20. Dezember 1988 (BGBI. I S. 2477)
Gesetz zur Sicherung und Strukturverbesserung der gesetzl. Krankenversicherung (Gesundheitsstrukturgesetz. ± GSG) vom 21. Dezember 1992 (BGBI. I S. 2266)
Gesundheitsreformgesetz
Auch die in den Folgejahren weiter steigenden BeitragssaÈtze (1988 betrug der durchschnittliche Beitragssatz der
GKV 12,9% des Bruttoeinkommens) sowie die permanente Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze vermochten es nicht, die Finanzierungsprobleme der GKV dauerhaft zu loÈsen. Die Defizite der GKV der Jahre 1984 bis
1988 addierten sich zu uÈber 8 Mrd. DM, so daû einschneidende Maûnahmen unabdingbar wurden.
Mit Hilfe des am 20. Dezember 1988 verabschiedeten
Gesundheits-Reformgesetzes (GRG) wurde der Versuch
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Weiterere gesetzliche
Eingriffe noÈtig
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unternommen, die unbefriedigende Situation der GKV
grundlegend zu verbessern. Daneben wurde das gesamte
Recht der Krankenversicherung neu kodifiziert und mit
Ausnahme der Leistungsbereiche ¹sonstige Hilfenª und
der Leistungen bei Schwangerschaft und Mutterschaft, die
ihre Rechtsgrundlage auch nach dem 31. Dezember 1988
in der Reichsversicherungsordnung haben, als FuÈnftes
Buch in das Sozialgesetzbuch eingefuÈgt (Art. 1 GRG).
Die GrundsaÈtze
des GRG
Reduktion
des aÈrztlichen
Leistungskataloges
Zielvorstellungen und Maûnahmen
Im Zentrum des GRG standen die drei GrundsaÈtze (§§ 70
ff. SGB V):
z BeitragssatzstabilitaÈt
z Sicherung einer notwendigen medizinischen Versorgung
z angemessene Vergu
È tung aÈrztlicher Leistungen.
Die politische PrioritaÈt lag auf der BeitragssatzstabilitaÈt.
Da es sich bei den vorgestellten GrundsaÈtzen um konfligierende Zielvorstellungen handelt, konnte diese PrioritaÈtssetzung nicht ohne Konsequenzen fuÈr die ¹notwendigeª medizinische Versorgung sowie fuÈr die ¹angemesseneª VerguÈtung der aÈrztlichen Leistung bleiben. Entweder muûte, sollte BeitragssatzstabilitaÈt erreicht werden,
der Leistungsumfang der GKV betraÈchtlich reduziert werden und/oder es muûten die aÈrztlichen Honorare merklich beschnitten werden.
Das GRG ist mit einer Reihe von Instrumenten ausgestattet worden, die primaÈr auf eine Reduktion des Leistungskataloges und eine EinschraÈnkung der Diagnosehoheit des Arztes hinauslaufen. Das Sachleistungsprinzip
wurde grundsaÈtzlich festgeschrieben, damit war eine Kostenerstattung nur ausnahmsweise moÈglich. Bei der zahn18
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medizinischen Versorgung sind hingegen Zuzahlungsregelungen in Verbindung mit einer StaÈrkung der Individualprophylaxe vom Gesetzgeber aufgenommen worden.
Zur Zielerreichung der BeitragssatzstabilitaÈt wurden
hauptsaÈchlich Maûnahmen im Bereich der Arzneimittel
eingefuÈhrt.
So wurde die Erstellung einer sog. Negativliste gesetzlich vorgeschrieben, die alle Medikamente enthalten
sollte, die Ørzte nicht mehr zu Lasten der GKV verschreiben duÈrfen. In eine solche Negativliste sollten nach § 34
Abs. 3 Satz 2 SGB V i. d. F. des GRG insbesondere Arzneimittel aufgenommen werden,
z ¹die fu
È r das Therapieziel oder zur Minderung von Risiken nicht erforderliche Bestandteile enthalten; oder
z deren Wirkungen wegen der Vielzahl der enthaltenen
Wirkstoffe nicht mit ausreichender Sicherheit beurteilt
werden koÈnnen; oder
z deren therapeutischer Nutzen nicht nachgewiesen ist.ª
Objektive Kriterien fuÈr die Festlegung der auszugrenzenden PraÈparate existieren jedoch nicht und konnten von
daher auch nicht gesetzlich kodifiziert werden, infolgedessen bestehen groûe ErmessensspielraÈume der Verantwortlichen.
Neben diesen Arzneimitteln, die aufgrund ihrer Wirkstoffzusammensetzung von einer Erstattung ausgeschlossen wurden, wurden auch die medikamentoÈsen Therapien
ganzer Indikationgebiete aus der Erstattungspflicht genommen (§ 34 SGB V). Hiervon betroffen sind die sog.
Bagatellarzneien.
Ferner wurde eine Festbetragsregelung eingefuÈhrt, mit
der ebenfalls betraÈchtliche Einsparungen bei der Arzneimittelversorgung erzielt werden sollten. Die Festbetrags19
Negativliste gesetzlich
verankert
Bagatellarznei
FestbetraÈge fuÈr Arznei
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Vorgabe von
RichtgroÈûen
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regelung sollte zugleich die als zu gering erachtete WettbewerbsintensitaÈt auf dem Pharmamarkt spuÈrbar erhoÈhen
(§ 35 Abs. 5 Satz 1 SGB V). Bei FestbetraÈgen handelt es
sich um eine besondere Form der Selbstbeteiligung, bei
der fuÈr bestimmte GKV-Leistungen HoÈchstbetraÈge der Erstattung festgelegt werden. Bezieht der Patient Leistungen, deren Preis oberhalb des Festbetrages liegt, so muû
er den uÈberschieûenden Betrag selbst zahlen; liegt der
Preis darunter, uÈbernimmt die Krankenkasse die gesamten Kosten.
Nach § 35 SGB V hat der Bundesausschuû der Ørzte
und Krankenkassen in Richtlinien vorzugeben, fuÈr welche
Arzneimittelgruppen FestbetraÈge festzusetzen sind. Diese
Arzneimittelgruppen bestehen jeweils aus Arzneimitteln,
die gegeneinander ohne TherapiebeeintraÈchtigung austauschbar sein sollen, eine Forderung, die nach Auffassung des wissenschaftlichen Beirats der Bundesapothekerkammer nicht zu erfuÈllen ist (Bundesapothekenkammer 1988 S. 2099).
Die aus Preissenkungsprozessen resultierenden Umsatzeinbuûen werden die Hersteller uÈber Mengenausweitungen zu kompensieren versuchen. Auch eine moÈgliche
Substitution von Arzneimitteln der Negativliste mit solchen, die dort nicht enthalten sind, mit dem Ziel, dem
Patienten eine Zuzahlung zu ersparen, scheint der Gesetzgeber erahnt zu haben. Daher sieht er bereits im GRG
Maûnahmen vor, die das Verschreibungsverhalten der
Ørzte im Sinne einer umfassenden Senkung der Arzneimittelausgaben beeinflussen sollen. So sollen nach § 84
SGB V i. d. F. des GRG zwischen den Partnern der GesamtvertraÈge, also den Krankenkassen und den KassenaÈrztlichen Vereinigungen, RichtgroÈûen vereinbart werden.
Diese stellen arztgruppen- und patientengruppenspezifi20
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sche Vorgaben fuÈr eine mengenmaÈûig zuruÈckhaltende
aÈrztliche Verschreibungspraxis dar. Das Verschreibungsvolumen wird zwar nicht fuÈr jeden Arzt individuell festgelegt, dennoch besteht die MoÈglichkeit der WirtschaftlichkeitspruÈfung nach § 106 Abs. 2 Nr. 2 SGB V i. d. F. des
GRG bei RichtgroÈûenuÈberschreitungen. Die RichtgroÈûen
sollen Ørzte nicht nur veranlassen, sich auf die Verordnung von FestbetragspraÈparaten zu konzentrieren, sondern auch durch eine reduzierte Verschreibungsmenge
Einsparpotentiale zu erschlieûen. RichtgroÈûen stellen daher ein zentrales Instrument zur UnterstuÈtzung der Ziele
des Festbetragskonzepts dar (Vogelbruch 1992 S. 27).
Die VerordnungsgebuÈhr fuÈr Arzneimittel, fuÈr die kein
Festbetrag besteht, wurde von 2 auf 3 DM je Packung erhoÈht. Daû bei einer solchen wertunabhaÈngigen Zuzahlung
immanent die Gefahr besteht, daû Patienten versuchen,
eine moÈglichst groûe und teure Packung verordnet zu bekommen, hat der Gesetzgeber erkannt. Ab dem 1. Januar
1992 sollte daher fuÈr alle Arzneimittel, fuÈr die bis zu diesem Zeitpunkt kein Festbetrag festgelegt werden konnte,
eine Selbstbeteiligung von 15% des Preises, maximal 15
DM, gelten. Die wertabhaÈngige prozentuale Zuzahlung,
die immer in gesundheitsoÈkonomischen und ordnungspolitischen Diskussionen um eine Neuorientierung des
Gesundheitswesens gefordert worden war (Selke 1992),
haÈtte den Vorzug gehabt, alle Arzneimittel des Nichtfestbetragsmarktes relativ gleich zu behandeln.
Neben der gesetzlichen Verankerung verschiedenster
KostendaÈmpfungsmaûnahmen wurden aber auch neue
Leistungskomplexe aufgenommen, so auch die ambulante
haÈusliche Pflege. Ab dem 1. Januar 1989 wurde langjaÈhrig
Versicherten ein Anspruch auf eine maximal vierwoÈchige
professionelle pflegerische Versorgung (Urlaubspflege) zu21
ErhoÈhte Zuzahlung
Neue Leistungskomplexe
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erkannt. Voraussetzung hierfuÈr ist, daû bereits mindestens zwoÈlf Monate lang SchwerpflegebeduÈrftigkeit besteht. Ab dem 1. Januar 1991 wurde den Versicherten ein
Anspruch auf Dauerpflege (25 PflegeeinsaÈtze pro Monat
mit Maximalkosten in HoÈhe von 750 DM je Versicherungsfall) eingeraÈumt.
DaruÈber hinaus beinhaltet das Gesetz Ønderungen in
der Abgrenzung des versicherten Personenkreises, wie
z. B. die Gleichstellung von Angestellten und Arbeitern
durch Wegfall der Versicherungspflicht fuÈr Arbeiter mit
einem Einkommen oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze.
Substitution
Wettbewerb
wurde reduziert
Bewertung
Die EinfuÈhrung der Negativliste hat dazu gefuÈhrt, daû
Ørzte, denen es aufgrund des mit der zunehmenden
Ørztedichte verbundenen haÈrter werdenden Wettbewerbs
immer schwerer faÈllt, PatientenwuÈnsche nach der Verschreibung von Medikamenten zuruÈckzuweisen, sich
¹gezwungenª sahen, teure, dafuÈr aber als wirksam erachtete Arzneimittel, die nicht Bestandteil der Negativliste
sind, zu verschreiben. Das Auftreten derartiger SubstitutionsvorgaÈnge macht klar, daû es sich bei ¹Unwirtschaftlichkeitª, dem Attribut, mit dem die PraÈparate der Negativliste abqualifiziert werden sollen, um ein Kriterium
handelt, das sich nicht allein aus der isolierten Bewertung eines Medikamentes ergibt. Erforderlich sind vielmehr Ziel-Mittel-Betrachtungen.
FestbetraÈge stellen zwar rechtlich keine HoÈchstpreise
dar, denn nach wie vor ist es den Arzneimittelherstellern
moÈglich, eigene Preisvorstellungen zu aÈuûern und auch
Preise autonom festzusetzen, faktisch sind aber die meisten Unternehmen gezwungen, die Preise ihrer PraÈparate
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am Festbetrag zu orientieren. Hersteller von Generika,
deren Preise unterhalb des einzufuÈhrenden Festbetrags
liegen und deren vornehmliches Verkaufsargument bisher
der niedrige Preis war, werden vermutlich ihre Preise
langfristig in Richtung des Festbetrags erhoÈhen. Das Ergebnis der Festbetragsregelung ist also keine Intensivierung des Wettbewerbs bezuÈglich des Aktionsparameters
Preis, sondern vielmehr dessen Reduzierung.
Aus der Festbetragsregelung resultiert fuÈr die Patienten der Anreiz, Leistungen nachzufragen, deren Preise im
zuzahlungsfreien Bereich liegen. Die Festbetragsregelung
hat zwar einen Trend zu billigeren Medikamenten, genauer: zu Arzneimitteln zum Festbetrag, ausgeloÈst, kann aber
keineswegs das Mengenproblem loÈsen. Da zudem die
nach § 84 SGB V i. d. F. des GRG vorgesehene EinfuÈhrung
von RichtgroÈûen nicht erfolgte, trug das GRG auch nicht
zu einer EinschraÈnkung der verordneten Arzneimittelmenge bei.
Ordnungspolitisch ist zu beanstanden, daû die FestbetraÈge von den SpitzenverbaÈnden der Krankenkassen und
Ørzte zentral festgelegt werden und so einem an die
pharmazeutische Industrie gerichteten Preisdiktat in der
Wirkung nahe kommen. Neben groûen SpielraÈumen bei
der Einordnung von Medikamenten in Festbetragsgruppen bestehen erhebliche Differenzen zwischen Krankenkassen und Herstellern aufgrund zahlreicher unbestimmter Rechtsbegriffe.
FuÈr die Patienten wurde durch die EinfuÈhrung des
Festbetragskonzepts eine vollwertige Versorgung ohne jede Zuzahlung verankert. Aus wahltaktischen GruÈnden
eine sicherlich verstaÈndliche Zielvorstellung, die aber mit
dem grundsaÈtzlichen Reformziel einer erhoÈhten Eigenverantwortung nichts mehr gemein hat. Aus der Regelung
23
¹Preisdiktatª fuÈr
Medikamente
Wahltaktische
Ûberlegungen
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Pflegekonzept
hat mehrfach versagt
Nur kurzfristige
Refomziele erreicht
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resultierte daher auch nur ein kurzfristiger Preissenkungseffekt, wogegen eine effizientere DurchfuÈhrung medikamentoÈser Therapien, bezogen auf die Gesamtkosten
und nicht nur auf den Packungspreis, nicht erzielt werden konnte.
Das Pflegekonzept des GRG muû als gescheitert angesehen werden, da es an den BeduÈrfnissen der Betroffenen
vorbei zielt. So hat das Bundesarbeitsministerium fuÈr das
Jahr 1992 hierfuÈr zwar 6,4 Mrd. DM eingeplant, in Anspruch genommen wurden jedoch nur 1,2 bis 1,3 Mrd.
DM. Die GruÈnde fuÈr diese Nichtbeanspruchung sind vielfaÈltig: Ein groûer Teil der PflegebeduÈrftigen kann die Leistung gar nicht in Anspruch nehmen, weil der Gesetzgeber lange Vorversicherungszeiten zur Bedingung gemacht
hat. Die SchwerpflegebeduÈrftigkeit wurde vom Bundesausschuû Ørzte/Krankenkassen unter medizinischen Gesichtspunkten sehr restriktiv definiert, vor allem mit dem
Ziel, eine moÈgliche Ûberinanspruchnahme von vornherein auszuschlieûen. DaruÈber hinaus muû die SchwerpflegebeduÈrftigkeit vorab vom Hausarzt und dem Medizinischen Dienst der Krankenkassen in einem komplizierten
und zeitraubenden Antragsverfahren bescheinigt werden.
Es hat sich herausgestellt, daû die Anspruchsberechtigten
Geldleistungen Sachleistungen vorziehen, was aber nur in
wertmaÈûig geringerem Umfang moÈglich war.
Nahezu alle Kernziele des GRG wurden verfehlt (Tabelle 1). Erreicht wurden zwar jene Sparziele, die durch
Leistungsabbau (Sterbegeld und Selbstbeteiligung der Patienten, z. B. Zahnersatz) bewirkt werden sollten, hingegen wurden die auf strukturelle Wirkungen ausgerichteten KostendaÈmpfungsziele voÈllig verfehlt. Besonders eklatant sind die Defizite zwischen Anspruch und Wirklichkeit bei den Struktureffekten durch eine hoÈhere Transpa24
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Tabelle 1: BluÈms Reform: Wunsch und Wirklichkeit.
(Ørzte-Zeitung)
Einsparungen durch
FestbetraÈge
Struktureffekt durch Transparenz
Wirtschaftlichkeit im Krankenhaus
Neue Leistungen, haÈusliche Pflege
Beitragssatz
Defizit
Ziel 1992
1 400 Mio. DM
2 000 Mio. DM
1 570 Mio. DM
6 400 Mio. DM
12,6%
0 Mio. DM
Erreicht 1992
600 Mio. DM
0 Mio. DM
0 Mio. DM
1 250 Mio. DM
12,7%
uÈber 10 000
Mio. DM
renz des Arzneimittelmarktes fuÈr die Ørzte sowie bei der
Festbetragsregelung.
Es muû darauf hingewiesen werden, daû im GRG die
KostendaÈmpfung und nicht das Ziel einer bedarfsgerechten Gesundheitsversorgung im Mittelpunkt stand. Die im
GRG enthaltenen kostendaÈmpfenden Maûnahmen konzentrieren sich auûerdem auf wenige Gesundheitsbereiche, vor allem auf die Versorgung mit Arznei-, Heil- und
Hilfsmitteln sowie auf zahnaÈrztliche Leistungen. Keine
BeruÈcksichtigung fanden im Rahmen des GRG wie zum
Teil bereits erwaÈhnt der Krankenhausbereich, die ambulante Versorgung sowie die zukuÈnftigen Herausforderungen, auf die im folgenden noch eingegangen wird.
Zusammenfassend kann das GRG nur als punktuell
ansetzende Symptomtherapie bezeichnet werden, bei der
die kostentreibenden Strukturen im wesentlichen unbehandelt blieben. Es traten zwar kurzfristige Spareffekte
(¹BluÈm-Delleª) als Folge der Vorwegnahme von Leistungen im zahnaÈrztlichen Bereich im Jahre 1988 (¹BluÈmBauchª) ein, die eigentlich kostenverursachenden Strukturen blieben hiervon aber unberuÈhrt. Die Behauptung, wonach die erzielten Einsparungen als Zeichen eines Um25
GRG leitete keinen
Umbruch ein
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bruchs oder als Beginn eines anhaltenden strukturellen
Abschmelzungsprozesses der Gesundheitsausgaben zu
deuten seien, mag zwar wahltaktisch verstaÈndlich sein,
erwies sich aber sehr bald schon als unhaltbar.
Ordnungspolitisch stellt das GRG das Ergebnis planwirtschaftlichen und dirigistischen Denkens zentralverwaltungswirtschaftlicher Provenienz dar. Es geht von einem kollektivistischen Menschenbild aus, das beherrscht
wird vom Glauben der Planbarkeit und der Illusion der
Machbarkeit. Der einzelne BuÈrger, ob Patient oder Leistungserbringer, wird zunehmend entrechtlicht und bevormundet.
Versuch einer
umfassenderen
Gesundheitsreform
Gesundheitsstrukturgesetz
Die nach Inkrafttreten des GRG sich abzeichnende Erholung auf der Ausgabenseite, 1989 ergab sich ein Ûberschuû der Einnahmen uÈber die Ausgaben in HoÈhe von
fast 10 Mrd. DM, hielt nur kurzzeitig an. Bereits 1990
stiegen die Ausgaben wieder staÈrker als die Einnahmen.
Der Ûberschuû verringerte sich 1990 auf 6 Mrd. DM,
1991 ergab sich wieder ein Defizit. Aufgrund des Defizits
des Jahres 1992 in HoÈhe von fast 9 Mrd. DM (Bundesarbeitsblatt 1993) und der Gefahr steigender BeitragssaÈtze
sah sich die Bundesregierung zum Handeln gezwungen.
Steigende BeitragssaÈtze in der gesetzlichen Krankenversicherung bedeuten nicht nur eine hoÈhere Belastung
der Lohneinkommen und hemmen damit die Leistungsbereitschaft der Arbeitnehmer, sondern zugleich nehmen
die Lohnnebenkosten fuÈr die Arbeitgeber zu, was die BeschaÈftigungschancen negativ beeinfluût. Die WettbewerbsfaÈhigkeit des Industriestandortes Deutschland geriet
in Gefahr.
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Maûnahmen und Ziele
Das Gesundheitsstrukturgesetz (GSG) wurde in einer Rekordzeit von vier Wochen zum 21. Dezember 1992 verabschiedet. Insgesamt sollte mit dessen Hilfe eine Entlastung der Ausgabenseite der GKV von uÈber 10 Mrd. DM
erzielt werden (s. Tabelle 1).
Das Gesetz folgt in seinen wesentlichen ZuÈgen dem
Grundgedanken von der totalen Budgetierung aller Leistungsbereiche und der Verwaltungsausgaben. Die Budgets stellen Obergrenzen dar, Steigerungen sollen nur
noch im Rahmen der Steigerung der beitragspflichtigen
Einnahmen der Mitglieder zulaÈssig sein, d. h. es wird eine
Bindung an die Grundlohnsumme implementiert. Besondere Schwerpunkte im Rahmen des GSG bilden der Krankenhausbereich, die ambulante aÈrztliche und zahnaÈrztliche Versorgung, die Organisationsreform der GKV und
wiederum die Versorgung mit Arzneimitteln.
Die einschneidendsten VeraÈnderungen der Krankenkassenlandschaft rief die Organisationsreform der GKV
hervor (s. a. Kapitel 15.01). Die Ungleichbehandlung von
Arbeitern und Angestellten bei der Wahl ihrer Krankenkasse sowie die berufsbezogenen Gliederungskriterien
der GKV haben zu in betraÈchtlichem Umfang divergierenden Risikostrukturen, RisikoselektionsmoÈglichkeiten und
BeitragssaÈtzen gefuÈhrt. Die Regelungen des § 173 SGB V
i. d. F. des GSG sehen daher die grundsaÈtzlich freie Wahl
einer Krankenkasse, deren ZustaÈndigkeit sich auf den BeschaÈftigungs- oder Wohnort erstrecken muû, erstmals ab
1. Januar 1997 vor. Mitglieder konnten erstmals am 1. Januar 1996 die Mitgliedschaft bei ihrer Krankenkasse, mit
einjaÈhriger KuÈndigungsfrist, aufkuÈndigen und einer anderen Kasse beitreten, deren ZustaÈndigkeit sich auf ihren
BeschaÈftigungs- oder Wohnort erstrecken muû. Die Kran27
Budgets legen
Obergrenzen fest
GrundsaÈtzlich
freie Wahl
der Krankenkassen
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Risikostrukturausgleich
KrankenhaÈuser:
Gesamtbudget statt
Selbstkostendeckung
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kenkassen unterliegen einem Kontrahierungszwang, d. h.,
sie sind dazu verpflichtet, beitrittswillige Personen in ihren Versichertenkreis aufzunehmen. Zugleich duÈrfen sie
diese nicht diskriminieren (Diskriminierungsverbot).
Mit dem Ziel, Wettbewerbsverzerrungen zu neutralisieren, wurde vorgesehen, bereits ab 1. Januar 1994 in der
allgemeinen Krankenversicherung und ab 1. Januar 1995
unter Einbeziehung der Krankenversicherung der Rentner
(KVdR) einen permanenten, bundesweiten und kassenartenuÈbergreifenden Risikostrukturausgleich zu implementieren, der Unterschiede in den beitragspflichtigen Einnahmen (Grundlohn), in der Zahl der kostenfrei mitversicherten FamilienangehoÈrigen (Familienlast), alters- und
geschlechtsbedingte Risikofaktoren sowie InvaliditaÈt ausgleichen soll. Einnahmen- und Ausgabenunterschiede, die
nicht auf den in den Risikostrukturausgleich einbezogenen Faktoren beruhen, duÈrfen nicht ausgeglichen werden.
Weitere bestehende Wettbewerbsungleichheiten sollten
durch eine Vereinheitlichung des bisher noch unterschiedlichen Vertragsrechts von Ersatz- und PrimaÈrkassen erreicht werden, so daû die Sonderstellung der Ersatzkassen entfaÈllt.
Das GSG sah weiterhin vor die duale Finanzierung der
KrankenhaÈuser, bei der die Investitionskosten von der oÈffentlichen Hand (§ 2 Abs. 2 KHG), die Betriebskosten
hingegen durch tagesgleiche PflegesaÈtze der Krankenkassen finanziert wurden, schrittweise durch eine Finanzierung rein uÈber Fallpauschalen, Sonderentgelte und differenzierte PflegesaÈtze abzuloÈsen. Zum 1. Januar 1993 wurde
das Selbstkostendeckungsprinzip in Form der begleitenden
prospektiven Budgetierung auf der Basis tagesgleicher
PflegesaÈtze, das wesentlich zu unwirtschaftlichen Verhaltensweisen im Krankenhausbereich beigetragen hat,
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durch Gesamtbudgets abgeloÈst. Das Selbstkostendekkungsprinzip war eine Konsequenz der staatlichen Angebotsplanung durch selektive InvestitionsfoÈrderung im
Krankenhaussektor, die die Art der Betriebskosten weitgehend fremdbestimmt hat.
Neben der VeraÈnderung der VerguÈtungsform greifen erleichterte KuÈndigungsmoÈglichkeiten seitens der Krankenkassen in den FaÈllen, in denen das Krankenhaus nicht
mehr den Erfordernissen einer bedarfsgerechten, leistungsfaÈhigen und zugleich wirtschaftlichen Behandlung der Versicherten genuÈgt. Diese grundsaÈtzliche Abkehr von dem
bisher vorwiegend angewendeten dirigistischen Instrumentarium wird allerdings konterkariert durch eindeutig
dirigistische Vorschriften, zu denen die Pflegepersonalverordnung und auch die weiter ausgebaute GroûgeraÈteplanung gezaÈhlt werden muÈssen (vgl. Neubauer 1993 S. 83).
Durch eine bessere Verzahnung von ambulanter und
stationaÈrer Versorgung plante der Gesetzgeber mit dem
GSG sowohl ambulante Operationen in der Arztpraxis als
auch im Krankenhaus zu foÈrdern. Bei vielen Operationen
koÈnnen Kosten eingespart werden, wenn nicht ¹automatischª in jedem Fall die gesamte stationaÈre Pflegeinfrastruktur beansprucht wird.
Auch im Bereich der aÈrztlichen und zahnaÈrztlichen
Versorgung wurde fuÈr die Jahre 1993 bis 1995 ein grundlohngebundenes Honorarbudget vorgeschrieben, das, erhoÈht um die Steigerungsraten der Grundlohnsumme, auf
dem Gesamthonorar des Jahres 1991 basiert (§ 85 Abs. 3a
bis 3 c SGB V). Dem mit der wachsenden Zahl der niedergelassenen Ørzte und ZahnaÈrzte verbundenen Anstieg der
Leistungen und Verordnungen soll nach GSG durch eine
Bedarfsplanung fuÈr die vertragsaÈrztliche und vertragszahnaÈrztliche Versorgung entgegengetreten werden
29
Weniger und mehr
Dirigismus
Ønderungen
betreffend
die aÈrztliche Praxis
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Arzneimittelbudget
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(§§ 101, 92 Abs. 1 S. 2 Nr. 9 SGB V i. d. F. des Art. 1 GSG)
Ab 1. Januar 1999 sollte diese Regelung abgeloÈst werden
durch die sog. verschaÈrfte Bedarfszulassung. Nach § 102
SGB V duÈrfen VertragsaÈrzte dann nur noch aufgrund gesetzlich festgelegter VerhaÈltniszahlen, die das VerhaÈltnis
zwischen Haus- und FachaÈrzten festlegen, zugelassen werden. Daneben greift eine Altersgrenze von 68 Jahren fuÈr
die Teilnahme an der vertragsaÈrztlichen Versorgung ab 1.
Januar 1999 (§ 102 SGB V). Der Bereich der hausaÈrztlichen Versorgung wurde durch eine veraÈnderte Honorarverteilung, insbesondere zu Lasten der VerguÈtung des Laborbereichs, aufgewertet (§§ 87 Abs. 2 b, 85 Abs. 4 a SGB
V). Im Rahmen des einheitlichen Bewertungsmaûstabs
fuÈr aÈrztliche Leistungen werden ab 1995 viele Einzelleistungen zu Leistungskomplexen zusammengefaût.
Auch die Ausgaben fuÈr Arzneimittel wurden budgetiert. Als Budget fuÈr das Jahr 1993 galten die Ausgaben
des Jahres 1991, erhoÈht um den Anstieg der VertragsaÈrzte
und bereinigt um die finanziellen Auswirkungen der
Festbetragsregelung, die VeraÈnderungen der Arzneimittelpreise, die Effekte einer Neuregelung der Zuzahlungen
und der Leistungspflicht der Krankenkassen (§ 84 SGB
V). Ein Ûberschreiten des Budgets von 24 Mrd. DM ist
mit finanziellen Einbuûen der Ørzteschaft verbunden. FuÈr
die Deckung eines Defizits bis zu 280 Mio. DM haften die
Ørzte, bei einer hoÈheren Ûberschreitung haftet zusaÈtzlich
die pharmazeutische Industrie ebenfalls bis zu 280 Mio.
DM. Eine Ausgleichsforderung gegenuÈber der Industrie
wurde durch eine VerlaÈngerung des Preismoratoriums,
das ebenfalls durch das GSG eingefuÈhrt wurde, geschaffen. Hierbei handelt es sich um eine gesetzlich vorgeschriebene Preissenkung von festbetragsfreien Arzneimitteln.
30
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Nach Artikel 30 GSG war beabsichtigt, die Preise festbetragsfreier, verschreibungspflichtiger Medikamente ab 1.
Januar 1993 um fuÈnf Prozent und die Preise fuÈr festbetragsfreie, aber zu Lasten der GKV verordnerbare, nicht
verschreibungspflichtige PraÈparate, die der Apothekenpflicht unterliegen, um zwei Prozent zu senken und bis
zum 31. Dezember 1994 im Preis unveraÈndert zu lassen.
Ausgenommen von dieser Regelung sind PraÈparate, die
gemaÈû der Negativliste nach § 34 Abs. 3 SGB V nicht zu
Lasten der GKV verordnet werden koÈnnen.
Nach § 84 Abs. 4 SGB V sollte das Budget fruÈhestens
zum 1. Januar 1994 durch eine indikationsbezogene RichtgroÈûenvorgabe abgeloÈst werden. Hierbei war geplant, die
im GRG vorgesehene EinfuÈhrung von arztgruppenspezifischen RichtgroÈûen fuÈr das Volumen verordneter Leistungen weiter zu differenzieren. Mit Hilfe von indikationsbezogenen RichtgroÈûen sollte die Verantwortung fuÈr eine
sparsame Verordnung von Arzneimittel weg vom Kollektiv
auf die Ebene des einzelnen Arztes verlagert werden. Dies
ist aber in den meisten BundeslaÈndern nicht geschehen,
so daû auch 1994 die Budgetregelung fortgefuÈhrt wird.
Daneben sollte eine wirtschaftliche Verschreibungsweise von Arzneimitteln wieder durch die EinfuÈhrung einer Positivliste, die jene Medikamente enthaÈlt, die zu Lasten der GKV verordnet werden duÈrfen, gefoÈrdert werden
(§ 34a i. V. m. § 92 a SGB V). Dieses Vorhaben wurde jedoch nicht realisiert und spielt erst wieder bei der ¹Gesundheitsreform 2000ª eine entscheidende Rolle.
Mit dem GSG ist auch wiederum die Selbstbeteiligung
bei Arzneimitteln (§ 31 SGB V) von der bisherigen RezeptgebuÈhr von 3 DM (die prozentuale Regelung des GRG
war nie umgesetzt worden) auf eine gestaffelte Zuzahlung
umgestellt worden. Ab 1. Januar 1993 betraÈgt die Zuzah31
RichtgroÈûenvorgabe
Positivliste wurde
nicht realisiert
Selbstbeteiligung
des Patienten
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lung fuÈr Arzneimittel und Verbandsmittel pro Abgabeeinheit preisabhaÈngig 3, 5 oder 7 DM. Ab Januar 1994 wurde
diese Staffelung auf die Referenzbasis PackungsgroÈûe bezogen. Durch diese Neuregelung der Selbstbeteiligung bei
Arzneimitteln beabsichtigte der Gesetzgeber dem teilweise sehr schwer begruÈndbaren Mengenwachstum auf dem
Arzneimittelbereich, insbesondere Wunschverordnungen
entgegenzuwirken.
Deutliche MaÈngel
Krankenkassen
konkurrieren nicht nur
mit dem Preis
WuÈrdigung der Maûnahmen
Durch die EinfuÈhrung der Kassenartenwahlfreiheit sind
erste zentrale reformpolitische Forderungen erfuÈllt worden. Dennoch sind die MaÈngel nicht zu uÈbersehen.
Der Risikostrukturausgleichsfall wird uÈber die Gefahr
des Wettbewerbsversagens legitimiert (vgl. Cassel 1993).
Die Intention des Gesetzgebers lag in etwa darin, unterschiedliche Altersstruktur und Grundlohnsumme bei den
Krankenkassen auszugleichen, da sich ansonsten eine hoÈhere Effizienz nicht mehr zwingend in den BeitragssaÈtzen
widerspiegeln wuÈrde. Folglich koÈnnte eine unwirtschaftliche Kasse mit einer guÈnstigen Versichertenstruktur immer noch niedrigere BeitragssaÈtze ausweisen, als eine
wirtschaftlich arbeitende, deren Mitgliedsstruktur sich
vornehmlich aus geringverdienenden und aÈlteren Patienten zusammensetzt.
Mit dieser Argumentation wird aber impliziert, daû
der Preis eines Produktes, hier der Beitragssatz, der einzig entscheidende Parameter fuÈr den Leistungserbringer
Krankenkasse ist, von groÈûerer Bedeutung ist jedoch das
Preis-Leistungs-VerhaÈltnis. Zwar sind die Leistungskataloge der Krankenkassen weitgehend gesetzlich vorgeschrieben, dennoch besitzen Krankenkassen die MoÈglichkeit,
uÈber die Satzung das gesetzlich vorgesehene Leistungs32
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spektrum naÈher zu spezifizieren. Auch durch Standortwahl, BeratungsqualitaÈt, Kulanzregelungen oder durch
den Aufbau eines besonderen Images entwickeln Krankenkassen ein akquisitorisches Potential.
Ein Finanzausgleich, nichts anderes stellt der Risikostrukturausgleich dar, wirkt immer wettbewerbshemmend, in erster Linie dient dieses Instrument der Bestandssicherung bestimmter Krankenkassen. Die Auswahl
der Risikofaktoren, die im Rahmen eines Risikostrukturausgleichs nivelliert werden sollen, entscheidet unmittelbar uÈber den Bestand einzelner Kassen oder Kassenarten.
GeschuÈtzt werden also nicht die Interessen der GKV-Versicherten, sondern der Bestand bestimmter Kassen und
Kassenarten. Daneben ist der Risikostrukturausgleich ressourcenverschlingend, vor allem mit Blick auf den erforderlichen Personaleinsatz, da zu erwarten ist, daû die
Kassen mit aller Kraft versuchen werden, Ausgleichsverbindlichkeiten zu vermeiden und moÈglichst viel aus dem
Risikostrukturausgleich zu erhalten. Dieser Ressourceneinsatz stellt aber die Versichertengemeinschaft insgesamt
nicht besser (Neubauer 1988).
Grundgedanke des Risikostrukturausgleichs war es,
von daher erklaÈrt sich auch sein zeitlicher Vorlauf, Beitragssatzunterschiede auszugleichen, die sonst in der
Wettbewerbssituation nach dem 1. Januar 1996 zu ungleichen Startchancen jener Kassen mit u. a. risikostrukturbedingt hoÈheren BeitragssaÈtzen gefuÈhrt haÈtten. Da es sich
aber bei dem gesetzlich vorgeschriebenen Risikostrukturausgleich um ein permanentes Instrument handelt, ist die
verabschiedete Regelung diesem Grundgedanken nicht gerecht geworden.
Im Mittelpunkt der BemuÈhungen des Gesetzgebers
standen anscheinend nicht die Interessen der Versicher33
Bestandsschutz fuÈr
einzelne Kassen
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der ArbeitsplaÈtze
statt Interesse
der Versicherten
Entscheidungskriterium Beitragssatz
Marktzu- und -austritt
behindert
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ten, sondern vielmehr die Konstruktion moÈglichst optimaler Bedingungen fuÈr den Fortbestand bestimmter Organisationen (Gesetzliche Krankenkassen) und der in ihnen bestehenden ArbeitsplaÈtze.
Um zu einer Ordnung der GKV zu gelangen, die den
BeduÈrfnissen der Versicherten gerechter wird, haÈtte es
dieser bestandsschuÈtzenden Regulierung nicht bedurft. Es
waÈre lediglich erforderlich gewesen, die Wahlfreiheit der
Versicherten zu garantieren. Hierzu haÈtten die Bestimmungen uÈber die freie Kassenwahl sowie die gesetzliche
Verankerung eines Kontrahierungszwanges und eines Diskriminierungsverbots ausgereicht. Mitgliederbewegungen
haÈtten dann insoweit zu einer Angleichung der BeitragssaÈtze gefuÈhrt, als der Beitragssatz fuÈr das einzelne Mitglied das entscheidungsrelevante Mitgliedschaftskriterium
ist. Kontrahierungszwang und Diskriminierungsverbot eroÈffneten dann auch Mitgliedern von Kassen mit hohem
Beitragssatz, die selbst eher schlechte Versicherungsrisiken darstellen, die MoÈglichkeit der Abwanderung. LaÈngerfristig waÈre sogar mit einer Angleichung der BeitragssaÈtze zu rechnen, waÈre der Beitragssatz das einzige Entscheidungskriterium fuÈr die Mitgliedschaft in einer bestimmten Krankenkasse. Dies ist aber eben nicht der Fall.
Wettbewerbliche Prozesse sind immer mit ungleichen
Marktlagen fuÈr die Wettbewerber verbunden. Die Aufgabe des Gesetzgebers liegt darin, gleiche rechtliche Rahmenbedingungen fuÈr die Wettbewerber zu schaffen sowie
den Marktzutritt fuÈr neue Krankenversicherungsanbieter,
aber auch den Marktaustritt von Krankenkassen, zu ermoÈglichen. Gerade letzteres geschah nicht. So sieht das
GSG Erschwernisse bei der NeugruÈndung von Betriebsund Innungskrankenkassen und auch bei deren Schlieûung vor. Absicht des Gesetzgebers war es, Entsolidarisie34
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16 z 01 03
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rungsprozesse durch die NeugruÈndung von Betriebs- und
Innungskrankenkassen zu vermeiden.
Konzentrationsprozesse auf der Seite der Krankenkassen, erstaunlicherweise nicht kassenartenuÈbergreifend,
wurden ausdruÈcklich gefoÈrdert. Den Landesregierungen
wurde explizit das Recht zugestanden, Krankenkassen
zwangsweise zu fusionieren; so fusionierten mittlerweile
alle Allgemeinen Ortskrankenkassen in Landes-AOK um.
Aber auch der erschwerte Marktaustritt bei nicht nachfragegerechtem Angebot der Krankenkassen foÈrdert konzentrative Tendenzen. Eine freiheitlichen, marktwirtschaftlichen Prinzipien genuÈgende Ausgestaltung des Krankenkassenwettbewerbs in der GKV haÈtte den Kassen weitere
Aktionsparameter auf Seiten des Leistungseinkaufs eroÈffnet. Dies hat der Gesetzgeber im Rahmen des GSG nicht
vermocht.
Auf die vom jeweiligen Honorierungssystem der Leistungsbereiche (Ørzte, KrankenhaÈuser, Medikamente)
ausgehenden Anreize zur unwirtschaftlichen Leistungserbringung und zur Mengenausweitung reagierte der Gesetzgeber bisher (ArzneimittelhoÈchstbetrag des KVKG)
und auch im Rahmen des GSG mit der Vorgabe von festen, an die Grundlohnentwicklung gebundenen Jahresbudgets, fuÈr deren Einhaltung die Leistungsanbieter haften. Neu war hingegen die vollstaÈndige Anbindung der
Ausgabenentwicklung aller Leistungsbereiche an die
Grundlohnentwicklung, wenn auch nur befristet bis einschlieûlich 1995.
Die Anbindung an den Anstieg der Grundlohnsumme
mag dem Anspruch der BeitragssatzstabilitaÈt genuÈgen,
den BeduÈrfnissen der Versicherten wird mit einer solchen
Anbindung aber kaum Rechnung getragen. In vielen LaÈndern haben empirische Untersuchungen gezeigt, daû, un35
Fusion statt
Wettbewerb
Bindung an
Grundlohnentwicklung
16 z 01 03
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Zur konsequenten
Budgetierung fehlt
die Information
Und wieder
Vorzieheffekte
Arzneimittelbereich
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abhaÈngig von den politischen und sozialen VerhaÈltnissen,
die Gesundheitsausgaben mit einem hoÈheren Prozentsatz
als das Einkommen ansteigen. Wird eine Anbindung der
Gesundheitsausgaben an die Grundlohnentwicklung staatlich verordnet, kann, jedenfalls sobald die moÈglichen Rationalisierungspotentiale erschoÈpft sind, nicht mehr von
einer bedarfsgerechten Versorgung gesprochen werden.
Die zentrale Planung und Steuerung des Gesundheitswesens uÈber eine konsequente Budgetierung ist daher verfehlt. Die UnmoÈglichkeit, alle erforderlichen Informationen in die Budgetierung einzubeziehen, da sie nicht zentral vorliegen, kann anhand der vernachlaÈssigten Substitutionsbeziehungen zwischen den Leistungsbereichen verdeutlicht werden. So werden beispielsweise Patienten, deren Behandlung das Budget der Ørzteschaft zu sehr strapazieren wuÈrde, soweit wie moÈglich in einen anderen Leistungsbereich verschoben. In KrankenhaÈusern werden
Operationen zeitlich, soweit medizinisch vertretbar, aufgeschoben, so daû die Kosten in einem anderen Budgetzeitraum anfallen.
Wie schon Jahre zuvor beim GRG waren auch beim
GSG kurzfristige Einspareffekte zu verzeichnen, die aber
den langfristigen Anstieg der Gesundheitsausgaben nicht
beeintraÈchtigen konnten. So konnten beispielsweise bei
den Arzneimitteln Vorzieheffekte beobachtet werden, die
ebenfalls partiell der Intention des Gesetzgebers zuwiderliefen (Abb. 4). Die Budgetierungsnormen des GSG stellten daher lediglich SymptombekaÈmpfungen dar. Maûnahmen, die an den Ursachen ansetzen, sind kaum enthalten,
sollen jedoch spaÈter folgen. Darauf laÈût auch die zeitliche
Befristung der Budgetierungregelungen schlieûen.
Einen besonderen Schwerpunkt innerhalb der Bestimmungen des GSG bildet der Arzneimittelbereich. Man
36
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Abb. 4: Vorzieheffekte durch EinfuÈhrung des Arzneimittelbudgets ab 1. Januar 1993
scheint sich von Regulierungen in diesem Feld besonders
rasche Wirkungen zu versprechen, weil angenommen
wird, daû hier die Verschwendung am groÈûten ist und
deshalb am ehesten gespart werden kann.
Das Preismoratorium stellt einen schwerwiegenden
Eingriff in die unternehmerische Handlungsfreiheit dar.
Wie schon durch die EinfuÈhrung der Festbetragsregelung
werden die pharmazeutischen Unternehmen zu Preissenkungen gezwungen, nun allerdings nicht mehr nur faktisch, sondern durch die strikte Vorgabe eines Absenkungsprozentsatzes. Besonderes problematisch erscheint
die unsachgemaÈûe Ausgestaltung des Preismoratoriums,
die dazu fuÈhrt, daû nicht nur der GKV-Bereich beruÈhrt
wird, sondern auch Absenkungen im Bereich der Selbstmedikation vorgeschrieben worden sind.
Die neuen Maûnahmen zur BeschraÈnkung des Zugangs zur vertragsaÈrztlichen bzw. vertragszahnaÈrztlichen
Versorgung stellen einen weiteren Schritt weg von der
Freiberuflichkeit der aÈrztlichen TaÈtigkeit dar. Standortentscheidungen kann ein niederlassungswilliger Arzt kaum
noch selber treffen. So waren im September 1993, je nach
37
Niederlassungsfreiheit
der Ørzte
16 z 01 03
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GSG bekaÈmpft
nur die Symptome
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aÈrztlicher Fachrichtung, bereits zwischen 48% und 72%
aller Zulassungsbezirke fuÈr weitere Niederlassungen gesperrt.
Auch wenn diese Maûnahme kurzfristig von kostensenkenden Effekten begleitet sein mag, handelt es sich im
wesentlichen um die BekaÈmpfung von Symptomen mit
nicht absehbaren Konsequenzen fuÈr die ambulante aÈrztliche bzw. zahnaÈrztliche Versorgung der BevoÈlkerung. Es
ist evident, daû eine zu einem eigentlich beliebigen Zeitpunkt ausgewaÈhlte Kennziffer nichts mit dem Bedarf an
medizinischen Dienstleistungen der BevoÈlkerung einer
Region gemein haben kann. Auf diese Weise ermittelte
Werte sind hoÈchst zufaÈllig, systematisch nicht zu begruÈnden und somit voÈllig willkuÈrlich (Ballast 1993 S. 114).
Das Gesundheitsstrukturgesetz (GSG) ist ordnungspolitisch ambivalent. Zum einen enthaÈlt es sehr konstruktive AnsaÈtze, die mit einer marktwirtschaftlichen Ordnung
vereinbar sind. So sind die Aufhebung des Selbstkostendeckungsprinzips und die projektierte, aber noch nicht
realisierte Abschaffung der dualen Finanzierung der
KrankenhaÈuser, die erhoÈhte Selbstbeteiligung der Patienten und die Kassenartenwahlfreiheit fuÈr die Versicherten
wichtige Schritte auf dem richtigen Weg, da sie mit den
Grundprinzipien einer sozialen Marktwirtschaft vereinbar
sind. Die drastischen Eingriffe in die Entscheidungsfreiheit aller Beteiligten, insbesondere die dirigistisch verfuÈgte Deckelung der GKV-Ausgaben in allen Leistungsbereichen stellt aber wiederum nur einen Versuch dar, die
Symptome zu bekaÈmpfen. An den eigentlichen Ursachen
wird nicht angesetzt.
38
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Neuordnungsgesetze
Da auch das Gesundheitsstrukturgesetz nur ansatzweise
zur LoÈsung der Ausgabenentwicklung beitrug (vgl. hierzu
Abb. 5), versuchte der Gesetzgeber, mit dem Beitragsentlastungsgesetz (1996) und vor allem mit den beiden Neuordnungsgesetzen (1997) eine hoÈhere Effizienzorientierung im deutschen Gesundheitswesen zu erreichen.
Zielsetzung und Maûnahmen
Die GKV-Neuordnungsgesetze (NOG), die am 1. Juli 1997
in Kraft traten, sind ein Versuch, die Wirksamkeit des
Wettbewerbs in der GKV zu erhoÈhen. Eine StaÈrkung des
Wettbewerbs zwischen den Kassen sollte uÈber die Schaffung von Satzungsleistungen angestrebt werden (vgl. Art
1/15. Abschnitt 2. NOG), was aber in der politischen Diskussion zu umstritten war und nicht in die GesetzesrealitaÈt uÈberfuÈhrt wurde. Insbesondere mit der EinfuÈhrung
von Modellvorhaben (§§ 63 ff. SGB V) und StrukturvertraÈgen (§ 73 a SGB V) sollten den Krankenkassen MoÈglichkeiten fuÈr effiziente Vertragsstrukturen gegeben werden.
Jedoch unterliegen diese Regelungen einer zeitlichen Befristung und sind von der Zustimmung der KassenaÈrztlichen Vereinigung abhaÈngig.
Ein besonderer Schwerpunkt der Neuordnungsgesetze
galt der StaÈrkung der Eigenverantwortung der Versicherten. Insbesondere sollten diese bei Beitragssatzsteigerungen der Krankenkasse uÈberproportional beteiligt werden:
Bei jeder BeitragssatzerhoÈhung um 0,1% war vorgesehen,
die Zuzahlung automatisch um 1 DM bzw. einen Prozentpunkt zu erhoÈhen. Damit verknuÈpfte der Gesetzgeber
eine Festschreibung der BeitragssaÈtze bis Ende 1996, was
der politischen PrioritaÈt der BeitragssatzstabilitaÈt entspricht. Zum 1. Januar 1997 sollten die BeitragssaÈtze dann
39
Mehr Wettbewerb im
Gesundheitswesen?
Mehr Wettbewerb
als Ziel
Versicherte in
die Verantwortung
nehmen
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Abb. 5: Ûberschuû-/Defizitentwicklung in der GKV (West) und ergriffene Maûnahmen. (Bundesministerium fuÈr Gesundheit)
16 z 01 03
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einheitlich um 0,4 Prozentpunkte reduziert werden. Mit
der Beitragssatzerhebung unmittelbar verbunden wurde
auch ein automatisches KuÈndigungsrecht fuÈr den Versicherten, woraus sich der Gesetzgeber ebenfalls einen staÈrkeren Wettbewerbsdruck auf die Krankenkassen versprach. Bis zum Inkrafttreten des SolidaritaÈtsstaÈrkungsgesetzes nach dem Regierungswechsel Ende 1998 wurde
diese Beitragssatzkoppelung jedoch nicht in die Praxis
umgesetzt (Ønderung durch das GKV-FinanzstaÈrkungsgesetz 1998). DaruÈber hinaus sah das Gesetzesvorhaben ein
Wahlrecht auf Kostenerstattung fuÈr den Patienten vor,
was als erster Schritt zur Flexibilisierung des Solidarprinzipes gedacht war.
Insgesamt nahm in beiden NOGe die Bedeutung der
Selbstbeteiligung zu: Es wurden folgende Zuzahlungen angehoben:
z fu
È r Arzneimittel um jeweils 5 DM auf 9, 11 und 13 DM
z fu
È r Heilmittel um 5% auf insgesamt 15%
z weitere Erho
È hungen bei Krankenhausleistungen sowie
im Fahrkostenbereich.
Einen besonderen Stellenwert der Reform nahmen die
Ønderungen in der zahnmedizinischen Versorgung ein.
Die bislang prozentualen ZuschuÈsse wurden in einen
IdemnitaÈtstarif uÈberfuÈhrt, verbunden mit einer Aufwertung der Eigenvorsorge durch regelmaÈûige prophylaktische Leistungen. In den Neuordnungsgesetzen war weiterhin vorgesehen, die Arznei- und Heilmittelbudgets durch
RichtgroÈûen zu ersetzen.
WuÈrdigung der Maûnahmen
Die mit den NOGe erhofften durchgreifenden wettbewerblichen Reformanstrengungen wurden nur teilweise in
41
Nur als StuÈckwerk
realisiert
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Und dennoch wieder
Dirigismus
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die RealitaÈt umgesetzt. Vor allem die Erprobungsregelungen auf der Vertragsseite mit Modell- und StrukturvertraÈgen sind nur eingeschraÈnkt durchfuÈhrbar ausgestaltet und
vor allem an den Zustimmungsvorbehalt der KassenaÈrztlichen Vereinigung geknuÈpft worden.
Trotzdem hat der Gesetzgeber versucht, Elemente einer der individuellen Eigenverantwortung und Handlungsfreiheit entsprechenden Ordnungspolitik zu implementieren. Dazu gehoÈren in erster Linie das Wahlrecht
zwischen Kosten- und Sachleistung, die angestrebten
WahlmoÈglichkeiten fuÈr den Versicherten und die hoÈheren
Selbstbeteiligungsregelungen. Hierdurch wurde das Versicherungsprinzip und die VersichertenpraÈferenzen staÈrker
zur Geltung gebracht und namentlich die Eigenverantwortung von Versicherten und Leistungserbringern gestaÈrkt und der Wettbewerb zwischen der Kassen intensiviert.
Ordnungspolitisch ambivalent ist jedoch zu vermerken, daû neben den gerade aufgezeigten Elementen auch
wiederum dirigistische Eingriffe ausgeweitet wurden. Die
Festschreibung der BeitragssaÈtze und vor allem die geplante Koppelung der BeitragssaÈtze sind mit einer freiheitlichen, marktwirtschaftlichen Ordnung kaum konform. Insbesondere die kartellrechtlichen Strukturen auf
der Steuerungsebene zwischen den Krankenkassen und
den KassenaÈrztlichen Vereinigungen sind wie bereits weiter oben erwaÈhnt durch den Zustimmungsvorbehalt bei
Erprobungsregelungen sogar noch verstaÈrkt worden. Ob
dem Ziel einer Stabilisierung der BeitragssaÈtze und damit
der Lohnnebenkosten mit den Gesetzen geholfen werden
kann, scheint eher zweifelhaft zu sein, wurde doch das
Problem der Beitragsbemessungsgrenze in den NOGe
weitgehend vernachlaÈssigt.
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Gesundheits-Reform 2000
Nach dem Regierungswechsel Ende 1998 wurden durch
das SolidaritaÈtsstaÈrkungsgesetz einige Maûnahmen insbesondere der Neuordnungsgesetze, wie etwa die hoÈheren
Zuzahlungsregelungen bei Arzneimittel sowie die generellen Kostenerstattungsregelungen, wieder zuruÈckgenommen. Dieses sog. ¹Vorschaltgesetzª soll nur erster Schritt
einer ¹Gesundheits-Reform 2000ª sein, die im Rahmen
dieser Arbeit nur in GrundzuÈgen dargestellt und beurteilt
werden kann (vgl. Eckpunkte 1999).
Projektierte Maûnahmen
Der besondere Stellenwert der Gesundheitsreform kommt
der Verzahnung zwischen ambulanter und stationaÈrer
Pflege zu. Es ist projektiert, die sektorale Budgetierung
zugunsten eines Globalbudgets aufzuheben. Die duale Finanzierung bei den KrankenhaÈusern soll endguÈltig in
eine monistische, unter der Verantwortung der Krankenkassen liegenden Regie umgewandelt werden. Auch die
MoÈglichkeit zu neuen innovativen Versorgungsformen in
der Linie der §§ 63 und 73 SGB V soll weiter ausgebaut
werden, wobei teilweise der Zustimmungsvorbehalt der
KassenaÈrztlichen Vereinigungen nicht erforderlich ist.
Auf der Ebene der ambulanten Versorgung erhaÈlt der
Hausarzt und einige ausgewaÈhlte FachaÈrzte eine sog.
¹gate-keeper-Funktionª zur Steuerung des Patientenflusses. Der Gesetzgeber erhofft sich durch diese Regelung
zum einen die Erzielung zusaÈtzlicher Wirtschaftlichkeitsanreize, zum anderen eine transparentere Leistungskontrolle im System der GKV.
Bei den Arzneimitteln wird die schon beim GSG eroÈrterte Idee einer Positivliste wieder aufgegriffen. Kriterien
fuÈr die Aufnahme in die Positivliste sind der nachgewie43
Neues politisches
Fahrwasser: RuÈcknahme durchgefuÈhrter
Reformschritte
Steuerung uÈber
Globalbudget
Hausarzt
Arzneimittel
16 z 01 03
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sene therapeutische Nutzen und die ZweckmaÈûigkeit der
Verordnung.
Die Ursachen werden
nicht angegangen
WuÈrdigung der Maûnahmen
Als ordnungspolitisch positiv ist die projektierte Umstellung auf die monistische Finanzierung im stationaÈren
Sektor anzusehen. Das gilt ebenfalls fuÈr die vorgesehene
MoÈglichkeit fuÈr die gesetzlichen Krankenversicherungen,
vernetzte Versorgungsformen anzubieten zu koÈnnen ohne
VertraÈge mit der KassenaÈrztlichen Vereinigung abzuschlieûen.
Diese positiven AnsaÈtze werden konterkariert von Globalbudgets, Positivlisten und vom Hausarztmodell. Insbesondere die im SolidaritaÈtsstaÈrkungsgesetz zuruÈckgenommenen Elemente der Kostenerstattung und der Selbstbeteiligungsregelungen fuÈr den Versicherten loÈsen sich wieder vom Prinzip der Eigenvorsorge und Eigenverantwortung. Auch dieses Reformmodell knuÈpft in erster Linie
mit diskretionaÈren Maûnahmen an die bisherige Symptombehandlung an, ohne den Ursachen der Fehlsteuerungen und des Ausgabenwachstums begegnen zu wollen.
Zwischenergebnis
Alle bisherigen Maûnahmen der Gesundheitspolitik in
Deutschland sind gepraÈgt von einem Nebeneinander verschiedener Steuerungsformen, von einem kontinuierlichen Anstieg interventionistischer Maûnahmen, die
zwangslaÈufig immer weitere Maûnahmen nach sich ziehen. Die Akteure des Gesundheitswesen versuchen haÈufig, durch angepaûte Verhaltensweisen den vom Gesetzgeber intendierten Wirkungen auszuweichen und veranlassen diesen so zu immer weiteren Folgeinterventionen. Resultat ist eine sog. Interventionsspirale, die vor allem auf
44
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16 z 01 04
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von Mises zuruÈckgeht (s. Streit 1995 S. 113 ff.). Die Unfreiheit und die EntmuÈndigung aller Beteiligten wird nicht
abgebaut, weil die bisherigen Maûnahmen, die nichts anderes als eine bloûe SymptombekaÈmpfung darstellen,
nicht greifen.
Ordnungspolitische Beurteilung der Gesundheitspolitik
16 z 01 | 04
Die aufgezeigten Entwicklungen der deutschen Sozialpolitik zeigen durchweg Schwierigkeiten sowohl mit dem
Prinzip der SubsidiaritaÈt als auch mit der selbstgewaÈhlten
Zielsetzung einer langfristigen Beitragssatzstabilisierung.
Daraus ergeben sich fuÈr den folgenden Abschnitt zwei
Fragerichtungen. Einmal ist unter BeruÈcksichtigung des
Status quo moÈglichen Fehlsteuerungen auf der Steuerungsebene nachzugehen, zum anderen soll die zweite
ordnungspolitische Betrachtung nach den Ordnungsbedingungen und -defiziten in derjenigen SphaÈre fragen, in
welcher die relevanten Entscheidungen fallen, naÈmlich in
der Politik.
Diagnose des gesetzlichen Gesundheitssystems
SteuerungsmaÈngel
Der Ausdruck Kostenexplosion bzw. Ausgabenfieber bezeichnet ein seit Jahren ansteigendes Problem des volkswirtschaftlich immer wichtiger werdenden Gesundheitssektors. Trotz einer simultanen Anhebung der BeitragssaÈtze und der Beitragsbemessungsgrenzen wurden immer
mehr Mittel notwendig, um die Ausgaben der GKV zu finanzieren (Tabelle 2). Die Frage ist folglich zu stellen, ob
die Kostenexplosion nicht ein Ergebnis verfehlter Anreizstrukturen fuÈr die Akteure im Gesundheitswesen ist.
Durch das Sachleistungsprinzip und das Bedarfsprinzip wird im Gesundheitswesen der Preisausschluûmecha45
Die Gesundheitspolitik
knuÈpfte bislang
hauptsaÈchlich an der
Symptombehandlung an
VollkaskomentalitaÈt
der Versicherten
16 z 01 04
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Tabelle 2: BeitragssaÈtze GKV. (Institut der deutschen Wirtschaft
KoÈln, Zahlen zur wirtschaftlichen Entwicklung Ausgabe 1998,
Tabelle 87 f., Tabelle 95)
Jahr
Beitragssatz in % / Beitragsbemessungsgrenze in DM
West
Ost
1980
1990
1991
11,4 / 3150
12,6 / 4725
12,2 / 4875
1992
1993
1994
1995
1996
1997
1998
1999
12,8 / 5100
13,4 / 5400
13,2 / 5700
13,2 / 5850
13,5 / 6000
13,5 / 6150
13,6 / 6300
± / 6375
±/±
±/±
12,8 / 2250
(ab 1.7.91: 2550)
12,6 / 3600
12,6 / 3975
12,9 / 4425
12,8 / 4800
13,5 / 5100
13,9 / 5325
14,0 / 5250
± / 5400
nismus auûer Kraft gesetzt (vgl. Oberender u. Hebborn
1994 S. 55). Die individuelle Zahlungsbereitschaft und
ZahlungsfaÈhigkeit entscheiden nicht mehr uÈber die Inanspruchnahme einer medizinischen Leistung. Daraus resultiert eine VollkaskomentalitaÈt der Versicherten. Der einzige limitierende Faktor ist faktisch die individuelle Zeit.
Der Zusammenhang zwischen individueller Leistungsinanspruchnahme und den BeitragssaÈtzen ist so kaum
spuÈrbar. Es liegt das sog. Moral-Hazard-Problem vor, der
Einzelne hat kaum Anreize zu krankheitsverhindernden
und gesundheitsfoÈrdernden Verhalten. Durch die steigenden KrankenversicherungsbeitraÈge ist eher ein Anstieg
des Anspruchsniveaus wahrscheinlich, da die QualitaÈtserwartungen steigen werden. Es liegt eine Art Teufelskreis
im Gesundheitswesen vor, der Ausdruck einer RationalitaÈ46
Ordnungspolitische Beurteilung der Gesundheitspolitik
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16 z 01 04
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tenfalle zwischen individueller RationaliaÈt und kollektiver
Notwendigkeit ist (Oberender u. Hebborn 1994 S. 60 ff.).
Der einzelne Leistungserbringer, namentlich der Arzt,
hat keinen Anreiz zu sparsamem Verhalten, da eine Mengenausweitung zunaÈchst eine Gewinnsteigerung bedeutet.
Es liegt eine sog. angebotsinduzierte Nachfrage vor. MoÈglich ist eine derartige Ausweitung der Nachfrage primaÈr
durch den Informationsvorsprung der Leistungsanbieter
gegenuÈber den Patienten. Der Patient merkt nur selten,
wann der Leistungsumfang das erforderliche Maû uÈbersteigt. FuÈr den Patienten als Versicherten besteht unter
den gegebenen Rahmenbedingungen auch kein Anreiz,
sich die fehlenden Informationen zu beschaffen, da er die
aÈrztliche Leistung insbesondere beim Sachleistungsprinzip als fast kostenlos empfinden kann.
Als einer der wichtigsten Kostentreiber im Gesundheitswesen ist der medizinische Fortschritt zu bezeichnen. Dieser
laÈût zwar einerseits die Diagnose- und TherapiemoÈglichkeiten zugunsten des Patienten ansteigen, andererseits
fehlte bisher ein entsprechender Anreiz fuÈr kostensparende Prozeûinnovationen. Da die Patienten die Kosten, wie
bereits oben ausgefuÈhrt, nicht zu beruÈcksichtigen brauchen, haben sie kein Interesse an kostenguÈnstigeren Technologien, sofern sie keinen medizinischen Vorteil bieten.
Die mit dem technologischen Fortschritt, vornehmlich
add-on- sowie half-way-Technologie, parallel verlaufende
demographische Entwicklung verschaÈrft die Finanzierungsproblematik des gesetzlichen Gesundheitssystems
noch zusaÈtzlich. Hinzu kommt, daû ein veraÈnderter Gesundheitsbegriff die Herausforderungen an den Leistungskatalog der GKV kontinuierlich erhoÈhen. Hierbei
seien nur Elemente der Wellness-Bewegung oder der Lifestyle-Medizin genannt.
47
Ørzte haben keine
Veranlassung
zum Sparen
Technischer Fortschritt
hat seinen Preis
Demographische
Entwicklung
und veraÈnderter
Gesundheitsbegriff
16 z 01 04
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Die Steuerungsproblematik wird durch das Prinzip
der gemeinsamen Selbstverwaltung auf der institutionellen Ebene noch verstaÈrkt. Sowohl auf Seiten der Versicherten als auch auf Seite der Leistungserbringer besteht
die gesetzliche Pflicht zur verbandlichen Selbstorganisation. Diesen hoheitlichen Kollektiven auf der Mesoebene
(VerbaÈnde der Krankenkassen, KassenaÈrztliche Vereinigungen) wird die Aufgabe zugeschrieben, uÈber den Leistungsumfang und die Leistungsentlohnung mittels Verhandlungen zu entscheiden. Diese Verfahren aÈhnelt einem
bilateralen Monopol.
Gesundheitswesen
wirkt volkswirtschaftlich ambivalent
Ausgabenentwicklung als volkswirtschaftliches Problem
Eine VeraÈnderung der Ausgabenanteile fuÈr bestimmte GuÈter und Dienstleistungen ist innerhalb einer Volkswirtschaft zunaÈchst Ausdruck des normalen Strukturwandels
einer Wirtschaft. GuÈter mit hoher EinkommenselastizitaÈt
der Nachfrage ± sog. einkommenssuperiore GuÈter (vgl.
Fehl u. Oberender 1994 S. 226) ± erlangen dabei eine zunehmende Bedeutung.
Die Bedeutung der Kostenfalle im Gesundheitswesen
entsteht erst durch die Koppelung der BeitraÈge an die
Lohnkosten, was unter BeruÈcksichtigung wenig steigender ProduktivitaÈt die Auswirkungen auf die WettbewerbsfaÈhigkeit mit sich bringt.
GrundsaÈtzlich impliziert die StabilitaÈt des Krankenversicherungbeitrages keine Konstanz der GKV-Einnahmen.
Allgemeine LohnerhoÈhungen sowie die Anhebung der
Beitragsbemessungsgrenze bescheren der GKV steigende
Einnahmen. Damit ermoÈglicht der Grundsatz der BeitragssatzstabilitaÈt, ebenso wie ein beispielsweise grundlohnorientiertes Budget, im Zeitverlauf durchaus ZuwaÈchse bei den Gesundheitsausgaben. Trotz dieser Dyna48
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16 z 01 04
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Abb. 6: BeschaÈftigungsentwicklung ausgewaÈhlter Branchen 1993±1996.
(Statistisches Bundesamt)
misierung kommt es jedoch zur willkuÈrlichen Vorgabe einer Gesundheitsquote, mit anderen Worten zu einer
(wenn auch dynamisierten) Obergrenze fuÈr den maximalen Anteil der Gesundheitsausgaben am Volkseinkommen.
Die Realisierung von Wachstumspotentialen eines
Marktes kann aber nur bei uÈberproportionalen ZuwaÈchsen bei den entsprechenden Ausgaben erfolgen. Liegt die
vorgegebene Gesundheitsquote darunter, wird eine Realisierung von Wachstumspotentialen, und damit von BeschaÈftigungschancen, behindert. Einen exemplarischen
Ûberblick uÈber die Bedeutung des Sektors Gesundheitswesen im Strukturwandel zeigt Abb. 6.
Wenn ein staÈndig wachsender Teil des Einkommens
nicht mehr zur freien Disposition steht, sondern fuÈr eine
solidarische Krankenversicherung aufgewendet werden
muû, stellt dies einen massiven Eingriff in die KonsumentensouveraÈnitaÈt dar. Die Nutzung des Wachstumspotentials im Gesundheitswesen setzt somit
z einen Verzicht auf eine Kostenda
È mpfungspolitik voraus und bedarf
z der DezentralitaÈt der Leistungserbringung entsprechend den individuellen WuÈnschen der Nachfrager.
49
KonsumentensouveraÈnitaÈt erheblich
behindert
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Ihren Niederschlag finden diese Ziele in der Notwendigkeit einer Ønderung der Rahmenordnung des Gesundheitswesens.
Problem der
Interventionsspirale
Staatliche Eingriffe
haben schwer
schaÈtzbare Folgen
Ordnungspolitische Defizite
Spannungsfeld zwischen SubsidiaritaÈt und SolidaritaÈt
Wenn das Gesundheitswesen in Deutschland einer mit SolidaritaÈtselementen verbundenen marktwirtschaftlichen
Ordnung folgen soll, bedeutet dies im Sinne des SubsidiaritaÈtsprinzips eine eindeutige Zuordnung der Kompetenzen
auf die geeigneten Ebenen. Bei ungeeigneter Wahl der Bezugsgruppe kann, wie auch der SachverstaÈndigenrat fuÈr die
Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen feststellt, keine
stabile Balance zwischen SolidaritaÈt und Eigenverantwortung realisiert werden (SachverstaÈndigenrat 1994 S. 60 f.).
Eine marktwirtschaftliche Ordnung basiert auf der individuellen Freiheit, d. h. auf der Ûberzeugung, daû selbstinteressierte Handlungen uÈber wettbewerbliche Prozesse regelmaÈûig ein sozial erwuÈnschtes Resultat hervorbringen.
Wenn Individuen zwangsweise in Kollektive eingebunden werden, wie etwa in ein System einer gesetzlichen
Krankenversicherung, so sind solche Maûnahmen legitimationsbeduÈrftig (eingehend zum Sozialprinzip Volk
1984) Durch die VerduÈnnung persoÈnlicher Haftung und
deren Ûbertragung auf ein Kollektiv entsteht sehr schnell
ein Verantwortungsvakuum, das institutionell aufwendig
und kostspielig aufgefuÈllt werden muû. Insbesondere die
Folgekosten staatlicher Eingriffe muÈssen bei einem Vergleich zwischen der Steuerungsebene Markt und der Ebene Staat verglichen werden (vgl. Streit 1996 S. 258). Element dieser Folgen sind auch dynamische Effekte, deren
Wirkung u. U. erst sehr langfristig sichtbar und nicht immer leicht monetarisierbar ist.
50
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16 z 01 04
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Im Hinblick auf die Systeme sozialer Sicherung muû
auch die Frage erlaubt sein, welchen Einfluû die verordnete SolidaritaÈt im Makrokollektiv auf die freiwillige SolidaritaÈt, auf die Eigenvorsorge, hat. Schon Eucken weist
darauf hin, daû das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft zur Durchsetzung einen von Partikularinteressen
und wirtschaftlichen Machtzusammenballungen unabhaÈngigen ¹starkenª Staat benoÈtigt (vgl. Eucken 1975 S. 325
ff.). Die kontinuierliche Ausdehnung staatlicher ZustaÈndigkeit und interventionistischer Eingriffe, wie auch mit
einigen Ausnahmen die Entwicklung seit den KostendaÈmpfungsgesetzen deutlich macht, lassen erkennen, daû
die auch von Eucken geforderten Kriterien der OrdnungskonformitaÈt und SubsidiaritaÈt nicht ausreichend waren,
um diskretionaÈre politische Entscheidungen einzudaÈmmen.
Institutionelles Defizit in der Gesundheitspolitik
Der Anspruch der Sozialen Marktwirtschaft, Elemente
des Marktes mit dem Anspruch eines garantierten, nach
dem Bedarfsprinzip ausgerichteten gleichen Zugang zu
Gesundheitsleistungen zu vereinbaren, verleiht dem Konzept der Sozialen Marktwirtschaft eine groûe politische
AttraktivitaÈt. Die Frage nach den Ursachen der zunehmenden Interventionsspirale im Gesundheitswesen weist
den Blick auf den politischen Prozeû.
Die theoretischen AnsaÈtze der Neuen Politischen
Úkonomie untersuchen die Maûnahmen des Staates
durch die Anreize der Politiker innerhalb eines demokratischen Staates (vgl. Bernholz u. Breyer 1994). Wird das
Verhalten der politischen Entscheider als Stimmenmaximierung aufgefaût, die auf einem Markt fuÈr WaÈhlerstimmen agieren, so wird offensichtlich, welche Seite der So51
Bedeutung des
WaÈhlerstimmenmarktes
Der Ansatz der
Politischen Úkonomie
16 z 01 05
Skizze eines LoÈsungsvorschlages
Inhalt
Trennung der
Steuerungsebenen
waÈre notwendig
16 z 01 | 05
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zialen Marktwirtschaft im politischen Prozeû beguÈnstigt
wird. Die Sicherung einer marktwirtschaftlichen Ordnung, die allgemeinguÈltigen, moÈglichst diskriminierungsfreien Regeln folgt, gleicht der Produktion eines oÈffentlichen Gutes, wogegen spezielle sozialpolitische Maûnahmen spuÈrbare Wirkungen fuÈr bestimmte Gruppen haben,
die als WaÈhler genau solche Sondervorteile nachfragen.
Somit besteht die Tendenz, zum einen ordnungspolitische
Maûnahmen zugunsten sozialpolitischer Interventionen
zu vernachlaÈssigen und zum anderen moÈgliche politische
ManoÈvriermassen nach MoÈglichkeit zu vergroÈûern. Dabei
sind die EinfluûmoÈglichkeiten namhafter Interessengruppen nicht zu unterschaÈtzen.
Auch wenn diese Diagnose der politischen Úkonomie
nicht uneingeschraÈnkt zutreffen muû, sind wichtige Ansatzpunkte fuÈr Reformen ableitbar. Insbesondere ist auf
eine staÈndige ¹Durchmischungª der Steuerungsebenen zu
verzichten. Aufgabe des Staates innerhalb einer freiheitlichen marktwirtschaftlichen Ordnung muû es sein, moÈglichst gleiche Rahmenbedingungen fuÈr alle zu gewaÈhrleisten.
Skizze eines LoÈsungsvorschlages
Ausgehend von den Ûberlegungen zu SteuerungsmaÈngeln
im Gesundheitswesen und dem Zusammenspiel von SolidaritaÈt und SubsidiaritaÈt soll im folgenden Abschnitt ein
LoÈsungsweg fuÈr ein zukunftsfaÈhiges Gesundheitswesen in
Deutschland skizziert werden. ZunaÈchst sind die GrundzuÈge im Sinne eines Leitgedankens aufzufuÈhren, um dann
im zweiten Schritt eine Agenda moÈglicher Reformschritte
abzuarbeiten. Dabei gilt es jedoch, gerade vor dem Hintergrund der politischen Úkonomie der Realisierbarkeit
der ReformvorschlaÈge Rechnung zu tragen. Im Sinne ei52
Skizze eines LoÈsungsvorschlages
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nes ¹social piecemeal engineeringª nach Popper (vgl.
Popper 1974 S. 51 ff.) sollen zwar bisherige Strukturen
nicht vernachlaÈssigt werden, doch muû eine Reformoption immer den gesamten ordnungspolitischen Zusammenhang betrachten.
Leitlinien einer Reform
Das Gesundheitswesen krankt ± wie bereits herausgestellt
± an falschen Anreizsystemen, einem Verantwortungsvakuum und einer staÈndig wachsenden Reglementierungsflut. Ziel einer Reform muû es daher sein, die Ursachen
von Ineffizienzen zu bekaÈmpfen und systemimmanente
individuelle Anreize zu schaffen. Gerade unter dem ambivalenten Gesichtspunkt kuÈnftiger Wachstumspotentiale im
Gesundheitswesen darf KostendaÈmpfung nicht als Selbstzweck verstanden werden (vgl. Oberender 1996 a).
Die EingriffsintensitaÈt erscheint in Anbetracht einer
freiheitlichen marktwirtschaftlichen Ordnung als zu hoch.
Verteilungspolitische Zielsetzungen duÈrfen als BegruÈndung fuÈr eine weitere BeschraÈnkung der individuellen
Freiheit nicht herangezogen werden. Es gilt das VerhaÈltnis von SolidaritaÈt und SubsidiaritaÈt neu zu formulieren.
Im Sinne des zugrundegelegten Menschenbildes kann
die Annahme getroffen werden, daû die Wiederherstellung von Eigenverantwortung und -initiative das Problem
kollektiver SelbstschaÈdigung minimieren koÈnnte, da der
einzelne wieder staÈrker fuÈr die Folgen seines Handelns
Verantwortung traÈgt (Haftungsprinzip).
Das Zusammenwirken von Handlungsfreiheit und Verantwortung ist als allgemeines Prinzip im Gesundheitswesen zu verstehen, das aber mit der politischen Vorgabe
des Solidarprinzips zu vereinbaren ist. Eine Versorgung
mit medizinisch notwendigen GesundheitsguÈtern unab53
Anreizsysteme zur
Eigenvorsorge und
Eigenverantwortung
Es fehlt der
eindeutige Grundsicherungskatalog
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Skizze eines LoÈsungsvorschlages
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Treffer
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haÈngig von der individuellen ZahlungsfaÈhigkeit ist in der
deutschen Gesellschaft eine nicht angreifbare ethische
PraÈmisse. Der soziale Auftrag muû aber als Hilfe zur
Selbsthilfe verstanden werden. GemaÈû dem allen sozialen
Zusammenleben inhaÈrenten Problem der knappen Ressourcen muû eine politische Entscheidung uÈber einen
Grundsicherungskatalog getroffen werden, der eine Art
Mindestsicherung fuÈr alle BuÈrger bereitstellt.
Leitbild einer
solidarischen Wettbewerbsordnung
Reform der
Versicherungspflicht
Agenda zur Reform der GKV
Aufgrund der politischen Vorgaben des SolidaritaÈtsprinzips sind die Rahmenbedingungen so zu gestalten, daû
der Wettbewerb mit dem Solidarprinzip vereinbar ist
(vgl. Oberender u. Hebborn 1994 S. 143 ff.).
Voraussetzungen hierfuÈr sind lediglich der Kontrahierungszwang und das Diskriminierungsverbot. Jede gesetzliche Krankenkasse, wobei durchaus uÈberlegt werden
koÈnnte, die Friedensgrenze zwischen PKV und GKV aufzulockern, muû jedem Versicherungspflichtigen die als
notwendig erachteten Regelleistungen mit einkommensabhaÈngig kalkulierten BeitraÈgen anbieten.
Bei der Ausgestaltung der Versicherung muû der
Kreis der versicherten Personen einerseits erweitert und
andererseits beschraÈnkt werden. Die Versicherungspflicht
sollte demnach nicht mehr an die abhaÈngige BeschaÈftigung geknuÈpft werden, sondern sich nach einer umfassenderen Einkommensdefinition richten. Die Reform der
Versicherungspflicht ist unmittelbar verbunden mit einer
Neudefinition des Leistungskatalogs. Neben AnreizuÈberlegungen (Rationalisierung) wird auch eine Rationierung
auf das medizinisch Notwendige erfolgen muÈssen (vgl.
Oberender 1996 b). Ûber den Regelleistungskatalog hinaus
sind die Krankenkassen dem vollen Wettbewerbsdruck
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Skizze eines LoÈsungsvorschlages
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ausgesetzt, d. h. es darf keine Marktaustrittsbarrieren
(Bestandsschutz) geben. Es steht jedem Versicherten frei,
uÈber den Mindeststandard hinaus Versicherungsleistungen gegen zusaÈtzliche versicherungsaÈquivalent gestaltete
Beitragszahlung zu entrichten. Auf einem derart konzipierten Versicherungsmarkt koÈnnen die jeweiligen Krankenversicherungen durch eine Vielzahl von Aktionsparametern guÈnstige Versicherungsangebote auf den Markt
bringen. Voraussetzung hierfuÈr ist aber zugleich ein
Wettbewerb auf Seiten der Leistungserbringer (selektives
Kontrahieren).
FuÈr die Versicherten impliziert eine Koppelung von
Freiheit und Verantwortung eine Erweiterung ihres Aktionsspielraumes. Durch die Úffnung des Marktes auf Seiten der Krankenversicherungen steigt die Wahrscheinlichkeit, eine den individuellen PraÈferenzen entsprechende
Versicherung zu finden. Die Versicherten werden aber zusehends unterschiedlichen Selbstbeteiligungsmodellen
und Wahltarifen gegenuÈberstehen, was Element einer an
Eigenvorsorge und -verantwortung orientierten Gesundheitspolitik sein muû. Im Sinne des Solidarprinzips bleiben die Patienten aber uÈber moÈgliche HaÈrtefallregelungen
vor uÈbermaÈûigen BeitraÈgen im Grundsicherungsbereich
geschuÈtzt.
Mit einem freiheitlichen und wettbewerblichen System
sind zentral festgelegte Budgetierungen fuÈr die Leistungserbringer nicht vorstellbar. Im Bereich der ambulanten
Versorgung kann es kuÈnftig eine Bedarfszulassung nicht
mehr geben, die Ørzte muÈssen sich jedoch den VeraÈnderungen im Vertragsbereich stellen. Es koÈnnen regional
oder je nach Krankenkasse unterschiedliche VersorgungspraÈferenzen bestehen. Das VertragsverhaÈltnis von Arzt
und Kasse kann sich dadurch vielfaÈltig gestalten. Neben
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HaÈrtefallregelung
fuÈr Grundsicherung
Ambulanter Bereich
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ResuÈmee
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StationaÈrer Bereich
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Durch Eigenverantwortung zu echter
SubsidiaritaÈt
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unterschiedlichen Honorierungsformen muÈssen besondere Versorgungsstrukturen wie etwa Managed-Care- oder
Disease-Management-Modelle moÈglich sein.
Des weiteren muû auch fuÈr die Leistungserbringer die
Koalitionsfreiheit gelten. Es koÈnnen sich durchaus bestimmte regionale oder uÈberregionale Ørztegruppierungen bilden, eine Zwangsmitgliedschaft in einer KassenaÈrztlichen Vereinigung ist jedoch nicht mehr zu rechtfertigen.
Im Bereich der stationaÈren Versorgung muû das staatliche Engagement weitgehend zuruÈckgenommen werden,
um insbesondere diskriminierende Wettbewerbsverzerrungen zwischen ambulanter und stationaÈrer Versorgung
abzubauen.
ResuÈmee
Das Anliegen des vorliegenden Beitrages war es nicht,
eine grundlegende Reformoption fuÈr das deutsche Gesundheitswesen zu entwickeln. Vielmehr sollte aufgrund
einer schrittweisen EinfuÈhrung in relevante Fragestellungen gesundheitspolitischer Entscheidungen aufgezeigt
werden, inwiefern die realisierte Gesundheitspolitik vom
zugrundegelegten Leitbild schrittweise abgewichen ist.
Dabei konnte festgestellt werden, daû der Gesetzgeber
weitgehend mittels einer ad-hoc-Politik versucht hat, die
Probleme im Gesundheitswesen zu loÈsen, ohne die im institutionellen Bereich liegenden Steuerungsdefizite ernsthaft anzugehen. FuÈr die ErklaÈrung dieses PhaÈnomens
kann vor allem auch die Bedeutung des WaÈhlerstimmenmarktes herangezogen werden, was jedoch noch staÈrker
eine ordnungspolitische Neuorientierung einfordert.
Entscheidend fuÈr die Zukunft der Gesundheitspolitik
in der Sozialen Marktwirtschaft wird es sein, das Prinzip
der Eigenverantwortung wieder in den Vordergrund ord56
ResuÈmee
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Hilfe
Treffer
nungspolitischer Konzeptionen zu stellen. SubsidiaritaÈt
muû insofern als Verpflichtung ernst genommen werden
und darf nicht unter dem Vorwand einer am Gleichheitsideal orientierten SolidaritaÈt Sonderrechte fuÈr privilegierte Gruppierungen schaffen. Unter diesen Bedingungen
koÈnnen auch die Wachstumspotentiale im Gesundheitsmarkt genutzt werden.
z zusammenfassung
Gesundheitspolitische Entscheidungen werden in
der Bundesrepublik im Zusammenspiel von Patient, Krankenversicherung und Leistungserbringer
getroffen. Das wirtschaftspolitische Handeln folgt
dabei dem Prinzip der Sozialen Marktwirtschaft,
das auf einer Verbindung von Freiheit und SolidaritaÈt fuût. Die ordnungspolitische Analyse der gesundheitspolitischen Maûnahmen in den letzten
Jahren zeigt eine zunehmende Tendenz zu interventionistischen Eingriffen, die vom Grundsatz der
Eigenverantwortung und SubsidiaritaÈt immer staÈrker abweichen. Eine Reformoption muû sich diesen GrundsaÈtzen wieder zuwenden, um einmal die
im Gesundheitswesen liegenden Wachstumspotentiale auch nutzen zu koÈnnen und um zum anderen
die EigenstaÈndigkeit und Selbstentfaltung des Individuums zu garantieren.
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ResuÈmee
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